„Wir hatten ein gutes Leben, jetzt bekommen wir Sozialhilfe“ Ein Jahr Ukraine-Krieg - Geflüchtete berichten

„Wir hatten ein gutes Leben, jetzt bekommen wir Sozialhilfe“
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Als der Krieg über ihre Heimat hereinbricht, sind Olga und Oleg im Urlaub. Ägypten. Das Land ist ein beliebtes Urlaubsziel bei Ukrainern. Am 22. Februar sind sie gelandet, am 23. haben sie sich ausgeruht, am 24. greifen russische Truppen die Ukraine an und an Urlaub ist nicht mehr zu denken.

Der 60-jährige Oleg, der wie seine Frau seinen Nachnamen nicht nennen möchte, sitzt mit Olga, ihrer Schwester Oksana und deren Mutter Lidia in einem kleinen Wohnzimmer in Lanstrop, als sie von ihrem vergangenen Jahr erzählen. Oleg war selbst Offizier bei der ukrainischen Armee. Hat er geahnt, dass es einen Angriff geben könnte? Er lacht: „Niet“. Nein.

Eigentlich logisch, sonst fährt man wohl kaum zum Sonnenbaden nach Ägypten. Da saßen sie nun also, auf Liegestühlen an einem Pool. Plötzlich war das gar nicht mehr so eine schöne Aussicht. Denn was sollten sie tun? Zurück in die Ukraine konnten sie nicht mehr. Flieger gingen nicht mehr zurück in die Ukraine.

21 Tage warten sie in Ägypten ab, dann wird ihnen ein kostenloser Flieger nach Budapest angeboten.

„Es war der Horror“

Aber wie geht es von da aus weiter? Aus der Ukraine hören sie von Politikern: In zwei, drei Wochen sei der Krieg vorbei. Die Ukrainer würden die Russen bis dahin vertrieben haben. Also beschließen Oleg und Olga einfach abzuwarten. Sie reisen nach Kroatien. Aber nach einem Monat ist ihnen klar: So schnell wird der Krieg nicht vorbei sein. Bei sich haben sie nur die Kleidung, die sie für den Urlaub gepackt haben. Das Geld ist auch fast aufgebraucht.

Ein Bekannter sagt ihnen, sie sollen nach Dortmund kommen. Oleg und Olga entscheiden sich im Mai 2022 dafür. Aber die Wohnung ist klein, es gibt Streit. Zum Übergang kommen sie beim Roten Kreuz in Derne unter.

„Wir können die Sprache nicht, wir wussten überhaupt nicht, was wir machen sollten. Dolmetscher haben bei den Ämtern gefehlt“, sagt Olga. „Diese ganzen Dokumente, die man ausfüllen soll. Man fühlt sich verloren. Es war der Horror.“ Einen Sprachkurs hat das Ehepaar noch nicht machen können.

Ihre Schwester Oksana stimmt ihr zu. Gebe es die sozialen Dienste nicht, wäre sie verloren gewesen, sagt die 51-Jährige. „Ohne fremde Hilfe ist das unmöglich.“ Oksana ist erst seit dem 16. Februar als Flüchtling in Dortmund registriert. Obwohl der Krieg in der Ukraine seit einem Jahr wütet, kommen täglich immer noch 30 bis 50 Personen in das Beratungszentrum der Caritas.

Vorher war Oksana bei der Mutter in der kleinen Stadt in der Nähe von Cherson geblieben. „Ich konnte sie da doch nicht alleine lassen“, sagt sie. Ständig habe es Bombardements gegeben. Ständig habe sie Angst gehabt, dass eine Rakete das Haus treffen könne. „Jeden Moment denkt man daran.“ Wenn man aus dem Fenster aus ihrem Haus blicke, sehe man den Flughafen, oder das, was mal als Flughafen genutzt wurde. Eine riesige freie Fläche. Die Russen hätten dort ihre Raketenwerfer aufgestellt.

Spaten und Spitzhacke

Wenn sie diese in der Nacht abfeuerten, habe der Schein die komplette Umgebung in rotes Licht gehüllt. Oksana hat dann die Luke zum kleinen Kellerraum geöffnet und hat sich dort mit ihrer Mutter versteckt. „Vor Splittern wären wir da wohl geschützt gewesen, vor einem Volltreffer nicht“, sagt Oksana. Spaten und Spitzhacke haben sie bei sich, um sich hinaus zu graben, falls sie verschüttet werden.

Irgendwann ergibt sich die Möglichkeit, dass eine Organisation die Mutter über Russland und Belarus in die polnische Hauptstadt Warschau bringt. Oksana holt sie mit dem Zug ab und bringt sie nach Dortmund. Dort schläft die Mutter nun auf der Couch in der Wohnung von Oleg und Olga, Oksana kommt aktuell in einer anderen Wohnung unter. Bald soll sie eine eigene bekommen.

Die 81-jährige Lidia schläft aktuell bei ihrer Tochter Olga (2.v.l.) und ihrem Schwiegersohn Oleg in Lanstrop. Ihre andere Tochter Oksana (3.v.l.) hat sie aus Warschau nach Dortmund geholt.
Die 81-jährige Lidia schläft aktuell bei ihrer Tochter Olga (2.v.l.) und ihrem Schwiegersohn Oleg in Lanstrop. Ihre andere Tochter Oksana (3.v.l.) hat sie aus Warschau nach Dortmund geholt. © Lukas Wittland

Alles, was in der Wohnung von Oleg und Olga steht, haben sie geschenkt bekommen. Auch die Kleidung. Sie sind dankbar dafür, sagen sie. Sie wissen zu schätzen, dass sie in Deutschland kostenlos zum Arzt können. Sie wissen zu schätzen, dass es hier einen Plan für Busse gibt und er nicht irgendwann am Tag kommt, wie in der Ukraine. Aber trotzdem haben sie auch Probleme.

Freude über ein bisschen Heimat

„Es gibt in Lanstrop keinen Bankautomaten, keine Post, keine Fachärzte“, sagt Olga. Das mache es nicht leichter, in einer neuen Stadt klarzukommen. In Scharnhorst gibt es immerhin einen russischsprachigen Supermarkt. Für die Ukrainer, die in Lanstrop leben, ist er praktisch eine Goldgrube. Denn hier gibt es Essen, das sie aus ihrer Heimat kennen.

Dahin wollen sie auch zurück, sagt die 56-Jährige, aber wenn die Russen bleiben, können wir nicht zurück. „Die Russen bleiben da nicht“, sagt Oleg kämpferisch. Er sagt es auch für die Menschen, die noch dort sind. Viele seien es nicht mehr.

„Dort kann man kaum noch leben“, sagt Oksana. „Die Russen schalten das Internet ab, den Strom. Die Lebensmittelpreise sind explodiert. Die Leute haben keine Jobs und damit auch kein Geld für Essen. Die Apotheken sind geschlossen, das Krankenhaus auch.“ Die Leute hätten keine Wahl, sie müssten gehen, sagt Oksana.

„Es ist ein Lebensbruch“

„Wir hatten gute Jobs, ein gutes Leben. Wir hatten Geld und ein Haus“, sagt Olga. Vor ein paar Tagen habe es noch gestanden. „Aber jetzt sind wir in Dortmund und sind auf Sozialhilfe angewiesen. Wir sind dankbar für die Hilfe, aber es ist nicht leicht, damit umzugehen. Es ist ein Lebensbruch“, sagt die 56-Jährige.

Die ersten Tage habe sie nur geweint. Mittlerweile verbringt sie die meiste Zeit im Internet. Was ist in ihrer Heimatstadt los? Hat es neue Angriffe gegeben? Gab es neue Tote? „Wir träumen nicht mehr, dass wir irgendwann zurückkönnen und leben nur noch im Heute. Pläne können wir ja sowieso nicht machen“, sagt Oksana. „Wir hoffen einfach nur, dass das Böse irgendwann besiegt ist.“

Für Oleg, den ehemaligen Offizier, ist das nur eine Frage der Zeit. Über den Ausgang des Krieges ist er sich sicher: „Die Ukraine wird gewinnen!“

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