„Ich vermisse das Meer“, sagt Ilona Kalynina. Weit sei es nicht gewesen von ihrem Haus in der ukrainischen Hafenstadt Odessa zum Strand. Früher sei sie oft dort spazieren gegangen, sagt die Ukrainerin. Fast ein Jahr nachdem sie nach Dortmund gekommen ist, sitzt sie mit ihren Kindern Sofia und Ruslan auf einer Couch in ihrer Wohnung in Dortmund-Hörde, in der ansonsten noch wenig Möbel stehen.
Dortmund ist ihr neues Zuhause in ihrem neuen Leben geworden, das plötzlich begann, als russische Truppen am Morgen des 24. Februar in die Ukraine einmarschierten und Städte bombardierten. Seit diesem Tag verteidigt sich die Ukraine gegen die russischen Invasoren. Wie viele ukrainische Menschen hat auch Ilona Kalynina nicht mit dem Angriff gerechnet. Was passiert, kann sie erst glauben, als auch in der Schwarzmeerstadt Odessa Raketen einschlagen.
„Nimm die Kinder und das Auto und fahr“, habe ihre Mutter damals gesagt, erzählt die 41-Jährige. Ihre Mutter ist in Odessa geblieben. Sie zum Mitkommen zu bewegen, sei nicht möglich gewesen, sagt Ilona Kalynina. Der Ex-Mann der 41-Jährigen kümmert sich um seine Schwiegermutter.
7551 Ukrainer in Dortmund
Über eine Million Menschen, vor allem Frauen und Kinder, sind nach Deutschland geflüchtet. 7551 Ukrainerinnen und Ukrainer sind seit dem Kriegsbeginn offiziell in Dortmund registriert worden. Ilona Kalynina flüchtet mit ihren Kindern zunächst über die Grenze nach Moldawien, Anfang März kommen sie in Dortmund an.
Einen Monat können sie in einem Zimmer in der Wohnung einer Dortmunder Familie wohnen. So richtig funktioniert das aber irgendwann nicht mehr. Woran das gelegen hat? Ilona Kalynina zuckt mit den Schultern. „Vielleicht die Sprachbarriere.“ Seit Oktober hat sie einen Platz in einem Sprachkurs. Ob sie denn schon Deutsch verstehe und sprechen kann? „Ein bisschen“, sagt sie auf Deutsch. „Ein bisschen“, macht die 13-jährige Sofia ihre Mutter nach und lacht.
Sie und ihr Bruder verstehen schon viel. Seit Mitte Mai besuchen sie das Gymnasium Stadtkrone Ost, eine Privatschule. Der Aufnahme gingen ein paar Zufälle voraus. Nachdem Familie Kalynina aus der Wohnung der Dortmunder Familie ausgezogen war, riet ihnen das Sozialamt, sich ans Rote Kreuz in Schüren zu wenden. Dort kamen sie übergangsweise unter und lernten das Ehepaar Gerner kennen.
Ivan und Lisa Gerner haben seit dem Beginn des Kriegs über 150 ukrainische Geflüchtete bei sich aufgenommen (wir berichteten), wenig später haben sie als Sozialarbeiter beim Roten Kreuz begonnen. Ivan Gerner sitzt mit in der Hörder Wohnung und übersetzt. Allerdings nur widerwillig, wenn sich Ilona Kalynina für die Hilfe des Ehepaars bedankt und sie lobt.
„Wir haben Freunde dort“
Als die Schulleiterin des Gymnasiums Stadtkrone Ost beim Roten Kreuz anrief und sagte, dass man zwei ukrainischen Kindern die Möglichkeit geben wolle, kostenfrei an der Privatschule zu lernen, schlug Lisa Gerner Ruslan und Sofia vor. „Pfiffig“ seien sie, sagte sie damals. Die Schule nimmt sie auf. „Zunächst haben wir kein Wort verstanden, aber jetzt haben wir Freunde dort“, sagt der 15-jährige Ruslan dann aber doch lieber noch auf russischer Sprache.
Seine Mutter ist froh, dass ihre Kinder dort fast ausschließlich unter deutschsprachigen Kindern sind, damit sie die Sprache schnell lernen.
Viele Ukrainer sprechen Russisch und haben Freunde und Verwandte in dem Land, das im Februar eine Invasion gegen sie gestartet hat. „Ich liebe die Ukraine, ich hatte nie geplant, sie zu verlassen“, sagt Ilona Kalynina. „Und dann steht man plötzlich in einem anderen Land, dessen Sprache man nicht spricht, in dem man niemanden kennt und hat alles zurückgelassen, was man sich erarbeitet hat.“
Die 41-Jährige betrieb in Odessa mehrere Straßenstände, an denen sie Wasser und Kaffee verkaufte. Sie sind typisch für ukrainische Städte. Ihnen sei es gut gegangen in Odessa, sagt Ilona Kalynina.

Bürokratie und Schock
„In Dortmund war ich zunächst wie im Schockzustand.“ Sie bekam unzählige Briefe, die sie nicht verstand. So viele habe sie in ihrem gesamten Leben in der Ukraine nicht bekommen. Dort laufe alles elektronisch. „Bürokratie“, sagt die Mutter. Auch dieses Wort kann sie auf Deutsch.
Aber es gibt eben auch die unbürokratische Hilfe von Hilfsorganisationen und engagierten Dortmunderinnen und Dortmundern. Wie bei der Schule hatte Familie Kalynina auch bei der Wohnungssuche Glück. Die Mutter hat eine russischsprachige Familie kennengelernt, die jemanden kannte, der ihnen die Wohnung in Hörde vermietete.
„Ich bin den Menschen in Dortmund, die uns aufgenommen und geholfen haben, sehr dankbar“, sagt Ilona Kalynina. Sie fühle sich wohl hier, sagt sie. Aber sie blickt immer noch mit Bangen in die Ukraine.
Phoenixsee statt Meer
Anfangs habe sie noch wie viele Ukrainer gedacht, der Krieg sei in zwei, drei Wochen vorbei. „Jetzt habe ich verstanden, es wird noch dauern“, sagt die 41-Jährige: „Hundertprozentig habe ich die Situation noch nicht angenommen.“ Was kommen wird, könne sie nicht sagen, aber sie kann sich vorstellen, in Dortmund zu bleiben.
„Das Wichtigste ist die Zukunft meiner Kinder“, sagt die Mutter. Ruslan und Sofia sagen, sie seien komplett zufrieden. Ruslan wurde schon auf einen Geburtstag eingeladen. Eine Freundin besucht Sofia häufig in Hörde.
Auch Ilona Kalynina trifft sich mit anderen ukrainischen Frauen. Am Phoenix-See gehen sie dann spazieren. Am Wasser sei es schön, sagt sie. Aber es ist eben nicht das Meer.
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