Laura Summann als fiese Cindy: Mit Käppi wird die Dortmunder Mobbingpräventionstrainerin selbst zur Mobberin - damit Kinder lernen, sich gegen sie zu behaupten. © Schaper

Mobbing unter Kindern

„Wir haben ihr Deo auf den Tisch gestellt und gesagt: Weil du so stinkst.“

Bevor Laura Summann aus Dortmund Kinder mobbt, zieht sie sich ein Käppi auf. Dann wird sie zur fiesen Cindy. „Du bist ein Blödmann!“, sagt sie, „Deine Schuhe sind hässlich!“ Dahinter steckt ein bestimmtes Ziel.

Dortmund (DO)

, 24.04.2022 / Lesedauer: 7 min

Alles fing damit an, dass sie selbst gemobbt wurde, sagt die 38-Jährige heute. „Auf dem Heimweg nach der Grundschule wurde ich von größeren Kindern beschimpft, bespuckt, in den Blätterhaufen geschubst, getreten.“

Nicht nur einmal, sondern regelmäßig wird die kleine Laura von den älteren Kindern angegangen. Doch sie vertraut sich keinem Erwachsenen an. „Ich hatte Hemmungen, das zuhause zu sagen, mich meiner Mutter zu öffnen, weil ich sowieso nicht gut genug war.“

Von der Suche nach Beachtung

Laura wächst als das Jüngere von zwei Kindern auf. In der Familie gibt es einen hohen Leistungsdruck, es geht um gute Noten und Medaillen, sie wird immer wieder mit der älteren, scheinbar besseren Schwester verglichen. „Das hat mich nachhaltig geprägt“, sagt Laura Summann. Dann kommt sie in die Grundschule – und wird gemobbt. „Ich wusste nicht, wie ich mich dem stellen oder entkommen kann. Ich hab das einfach ertragen und mich immer wieder gefragt: Warum ausgerechnet ich?“

Heute weiß Laura Summann: Das hatte nichts mit ihr zu tun. Der Zufall führte sie immer wieder mit der gleichen Gruppe zusammen. „Die hatten mich dann auf dem Kieker, weil es bei mir eben funktionierte.“ Klein gemacht habe sie sich, sei ängstlich gewesen. Das kommt wie gerufen für die, die sich groß und stark fühlen wollen. Und genau darum mobben Kinder andere Kinder: „Sie suchen nach Aufmerksamkeit, Macht oder Beachtung, sie wollen andere testen“, sagt Laura Summann.

Weil sie nicht genug Wertschätzung, Anerkennung, Liebe erfahren. Weil sie keinen „sicheren Hafen“ haben, wie die Expertin es nennt. Weil ihre Bedürfnisse, weil sie selbst nicht gesehen werden. Und letztendlich: weil sie selbst so behandelt werden. Auch die kleine Laura wird selbst zur Mobberin. „Als ich aufs Gymnasium gekommen bin, gab es ein Mädchen in unserer Klasse, die haben wir extrem schlimm gemobbt.“

„Wollten eigenen Minderwert kompensieren“

Niemand will neben dem Mädchen sitzen, in der Pause spielt es allein, ist bei keinem Geburtstag eingeladen, erinnert sich die 38-Jährige. „Einmal haben wir ihr eine Tüte mit Deo und Cremes auf den Tisch gestellt und gesagt: Hier, weil du so stinkst.“ Das Mädchen sagt: nichts. Wegen einer Pigmentstörung sieht es ungewöhnlich aus, hat noch dazu Neurodermitis und ist schüchtern. „Das war wahrscheinlich damals für uns, die ihren eigenen Minderwert kompensieren wollten, das gefundene Fressen.“

Die ganze Klasse sei wie ein Bienenschwarm gewesen. Die ist eklig, sagen sie. Die stinkt. Die sieht komisch aus. Und Laura macht mit. Erst in der Mittelstufe, also als Teenager, lassen sie von dem Mädchen ab. „Da war es für uns wichtiger, dass wir für die Jungs einen guten Eindruck gemacht haben, und sie war nicht mehr so im Fokus.“ Doch bis zum Abitur bleibt das Mädchen außen vor. „Ich glaube nicht“, sagt Laura Summann heute, „dass sie glücklich war.“

Was sie selbst erlebt und getan hat, begreift die Dortmunderin Jahrzehnte später durch ihre eigenen Kinder. „Als Emil und später Alma auf der Welt waren, habe ich Stück für Stück meine eigene Kindheit aufgearbeitet. Wie gehe ich mit Kindern um, warum gehe ich mit Kindern so um? Da ist viel hochgekommen, was 30 Jahre lang vergraben war.“

Was genau ist Mobbing?

So viel, dass es ihr Leben verändert: Von der Abteilungsleitung einer IT-Firma wechselt sie in die Selbstständigkeit – als Mobbingpräventionstrainerin und Kinder- und Familiencoach.

Doch was ist Mobbing überhaupt? „Für mich ist Mobbing das subjektive Leiden unter einer Konfliktsituation“, sagt Laura Summann. „Du bist blöd, du siehst doof aus - für das eine Kind ist das egal, das andere nimmt es sich zu Herzen. Die gleiche Situation über ein halbes Jahr für das eine okay, für das andere nicht.“ Deshalb trainiert sie auch Resilienz und Selbstvertrauen mit den Kindern. Sie rät ihnen außerdem: Wenn sowas passiert, dreh dich um, bleib ruhig, beschäftige dich mit etwas Schönem.

Die piesackende Mücke, das meckernde Schaf, und der gelassene Löwe - mit diesen Tieren arbeitet Laura Summann bei jungen Kindern. Sie fragt zum Beispiel: Wer wollt ihr sein? © Laura Summann

Zentral ist dabei der Gedankenpups. „Das ist eine Metapher, die ich mit den Kindern übe: Wenn ich schlecht esse, muss ich pupsen. Wenn Leuten blöde Sachen passieren, denken sie blöde Sachen und dann kommen sie als Gedankenpups raus.“ Ein übler Gedanke, der seinen Weg an die Luft gefunden hat? Für Erwachsene sei das komplex, Kindern helfe das Bild aber. „Wir machen diese Übungen, bis sie merken: Ich brauche mir das nicht annehmen, ich kann mich umdrehen und mich anderen Dingen widmen.“

Täter ignorieren - oder auf Augenhöhe begegnen

Die klassische Reaktion von Erwachsenen hingegen sei: „Das darfst du nicht!“ oder „Da gehen wir jetzt mal hin!“. Summann sagt: Durch das Ignorieren nehme man dem Täter den Wind aus den Segeln - er sage das schließlich, weil er den Fokus wolle. „Oft sind es die Kinder, die aggressiv und laut werden, die andere beschimpfen, die zu Hause eben nicht genug Aufmerksamkeit bekommen. Wie bei mir: Ich hab zu Hause nicht bekommen, was ich brauchte, und hab das an meiner Schulkameradin ausgelassen. Das verstehen die Kinder.“

Wenn sich jemand Liebe und Nähe wünscht, aber nicht bekommt, könne sich das negativ in Handlungen ausdrücken. Von Strafen wie der stillen Bank oder erzwungenen Entschuldigungen hält Laura Summann „gar nichts“. Die Grundlage, um Kinder gegen Mobbing zu schützen, aber auch davor zu bewahren, selbst zu Mobbern zu werden, sei Liebe. „Für alle Kinder ist es wichtig, dass sie einen sicheren Hafen zu Hause haben. Sie sollen wissen, dass sie bedingungslos geliebt, gehört, gesehen werden.“

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Hass mit Liebe begegnen, das ist für Laura Summann nicht nur eine Phrase. Als ihr Sohn Emil in der Schule auch körperlich angegangen wurde, mit blauen Flecken und blutigen Schrammen nach Hause kam, wurde sie aktiv. „Aber ich bin nicht zum Direktorium. Ich habe versucht, mehr über ihn herauszufinden.“ Der Mobber sei täglich von der Oma abgeholt worden, außerdem sei er dicklich gewesen, ihr Kind hingegen sportlich. Emil habe auf Nachfrage erzählt, dass er den Jungen nie mit anderen Kindern spielen sehe.

„Lass meinen Kumpel in Ruhe!“

Ging es um Eifersucht? „Vielleicht hat er nicht gelernt zu sagen, dass er ihn toll findet, dann tritt er ihn und beschimpft ihn“, sagt Laura Summann. „Ich habe meinem Sohn geraten: Wenn der Junge das nächste Mal auf dich zukommt, hältst du ihn mit beiden Händen fest und sagst, du würdest dich freuen, wenn er mal zu uns zum Spielen kommt.“ Seitdem sei Ruhe, inzwischen spielten die Kinder sogar zusammen, auch wenn der Junge noch nie bei ihnen zu Hause gewesen sei.

„Wenn Kinder sich mit etwas schlecht fühlen, sollten sie es sagen, sich jemandem anvertrauen können“, sagt Laura Summann. Das gilt auch für die anderen Kinder - die Umstehenden. Sie könnten sich zu dem anderen Kind stellen, das geärgert wird. Sie könnten sagen „Lass meinen Kumpel in Ruhe!“ oder ihn aus der Situation rausziehen. Das übt Laura Summann in der Gruppe. Zum Beispiel, indem sie zu Cindy wird - oder die Kinder selbst gemein zu einer einzelnen Schülerin oder einem einzelnen Schüler sind.

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Dabei lernen sie auch Zivilcourage. „Aus Erfahrung in den Trainings weiß ich: Die Kinder machen das meist intuitiv. Wenn ich als Cindy einige beschimpfe, schimpfen sie zurück oder drehen sich einfach nicht um.“ Aber die anderen Kinder aus der Gruppe zeigten oft schnell Empathie und würden beispielsweise sagen: Komm her, spiel mit mir! In den Rollenspielen würden Kinder erfahren, wie sich beide Seiten anfühlen. „Da sind schon oft Knoten geplatzt und Tränen geflossen.“

Gefühle stehen für Bedürfnisse

Neben Rollenspielen, Meditationsübungen und dem Gedankenpups geht es bei Laura Summanns Arbeit auch um Gefühle. Welche Gefühle gibt es, wer darf überhaupt Gefühle haben, was kann ich machen, wenn ich ein Gefühl habe? Eltern sind dabei immer Vorbilder, ihr Verhalten und Wortwahl prägend für die Kinder. „Manche Kinder sagen: Ich darf nicht wütend sein, Mama darf nicht weinen. Ich erkläre ihnen dann: Unsere Gefühle stehen für Bedürfnisse.“

Mit einer besonders krassen Schilderung habe ihre ehemalige Grundschule sie jetzt engagiert, erzählt Laura Summann. „An deiner Stelle würde ich mich umbringen - keiner kann dich so lieben“, habe dort eine Zweitklässlerin zu ihrer rothaarigen Mitschülerin gesagt. Oftmals gehe es jedoch um Prävention, wenn sie gebucht werde. „Die Rückmeldung, die ich von Schulen und Kitas bekomme, ist, dass die Konfliktfähigkeit durch die Corona-Pandemie sehr stark gelitten hat.“

Die Sparkasse Dortmund hat 5000 Euro für Anti-Mobbing-Coachings gespendet. Schulen können bis zu 600 Euro – das entspricht drei mal zwei Doppelstunden - abrufen, bei Kitas sind es 300 Euro. Dort bietet Laura Summann viermal 60 Minuten an. Erweiterungen wie zusätzliche Elternabende sind auf eigene Kosten buchbar. www.pottskids.de

Irgendwas läuft nicht, wie die Kinder es sich wünschen, brauchen, wollen - und die einen brechen sofort in Tränen aus, die anderen hauen oder schreien. „Resilient sein, gutes Selbstvertrauen haben, konfliktfähig sein – das kann man erarbeiten.“ Sonst ist der Einstieg in Mobbing vielleicht schneller da, sagt die Expertin. Der Name des Konzepts, auf dem ihre Coaching-Arbeit basiert, lautet dementsprechend: „Stark auch ohne Muckis“.

„Hat sie damit abgeschlossen?“

Über ihre eigene Mobbingerfahrung und den Druck in ihrer Kindheit sagt sie: „Menschen handeln immer aus ihrer besten Option heraus, sie machen das nicht wegen mir oder um mir zu schaden, sondern weil ihre eigenen Bedürfnisse nicht erfüllt sind.“ Dieser Gedanke helfe ihr heute auch, wenn sie beispielsweise mit ihrer Mutter Konflikte über die Kindererziehung habe. „Ich habe verstanden, dass das ihre Sicht der Welt ist.“

Und die Mitschülerin, die sie selbst gemobbt hat? Noch überlegt Laura Summann, ob sie das Mädchen von damals anschreiben soll – und was sie sagen soll. „Hat sie damit abgeschlossen, möchte sie eine Entschuldigung, wie sehr hat das ihr Leben beeinflusst?“ Diese Fragen stelle sie sich heute.

Rückblickend sei es erschreckend, dass niemand – weder Lehrer noch Eltern – mit ihnen, den Tätern, über das Mobbing in der Klasse gesprochen hätte. Um solche Fälle zu verhindern, will sie mit ihrer Arbeit Kinder stärken und Erwachsene aufklären.

„Wenn Menschen wieder mehr hintereinanderstehen“, sagt Laura Summann, „kann es unsere Gesellschaft nachhaltig verändern.“ Mut statt Mobbing - dafür greift die Dortmunderin zum Käppi und wird zur fiesen Cindy.

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