Wie ein Dortmunder Lehrer seine Nazi-Vergangenheit vertuschte

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Wie ein Dortmunder Lehrer seine Nazi-Vergangenheit vertuschte

rnSpurensuche von Ex-Schülern

Jahrelang unterrichtete ein Ex-Obersturmbannführer der SS an einem Dortmunder Gymnasium Geschichte. Seine Nazi-Vergangenheit deckten nun zwei seiner alten Schüler auf. Alles begann mit einem Suizid.

Dortmund

, 17.04.2022, 11:30 Uhr / Lesedauer: 3 min

Auf einmal war er nicht mehr da, erinnern sich Peter Kleinschmidt und Ulrich Schoen-Sanders. Was hinter dem Verschwinden ihres Lehrers Günther Flume Mitte der 1960er Jahre steckte, konnten sie damals nur erahnen. Seiner kompletten Geschichte kamen sie erst jetzt, mehr als fünf Jahrzehnte später, auf die Spur und haben sie ausführlich dokumentiert.

Es war eine zweispaltige Meldung in der Osterausgabe 1964 der Ruhr Nachrichten. Sie berichtete vom Suizid eines Schülers - wohl aus Angst vor dem Brief eines Klassenlehrers, wie aus einem Abschiedsbrief hervorging. Es war ein Mitschüler von Peter Kleinschmidt und Ulrich Schoen-Sanders am Max-Planck-Gymnasium.

Eine ausführliche Dokumentation über ihren Ex-Lehrer mit NS-Vergangenheit haben Prof. Peter Kleinschmidt und Ulrich Schoen-Sanders zusammengestellt.

Eine ausführliche Dokumentation über ihren Ex-Lehrer mit NS-Vergangenheit haben Prof. Peter Kleinschmidt und Ulrich Schoen-Sanders zusammengestellt. © Oliver Volmerich

Für sie war schon damals der Zusammenhang mit ihrem Lehrer Günther Flume offensichtlich, der just ab Ostern desselben Jahres nicht mehr an der Schule unterrichtete und wenig später mit 63 Jahren in den vorzeitigen Ruhestand versetzt wurde.

Flume habe den Mitschüler, der sich vor einen Zug geworfen hatte, oft vor der Klasse „bis aufs Blut geärgert“, berichten Kleinschmidt und Schoen-Sandes, die sich bei ihren Recherchen auch mit Klassenkameraden des verstorbenen Schülers austauschten.

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Tatsächlich hatte Flume einen Brief an dessen Eltern geschrieben. Das Schreiben wurde vom Schulkollegium „missbilligt“. Es soll um Kosten für eine zerbrochene Scheibe gegangen sein. Was genau in dem Brief stand, ist unbekannt. „Er ist in keinem Archiv auffindbar“, stellten die beiden Rechercheure fest.

Dokumentiert ist allerdings die Dienstbesprechung zu einer Dienstaufsichtsbeschwerde, die die Eltern des verstorbenen Schülers gegen Flume gestellt hatten. Die Haltung Flumes dabei war eine Verkettung aus Vertuschung, faulen Ausreden und Lügen, stellen Kleinschmidt und Schoen-Sanders fest. Und das kennzeichnet wohl das ganze Berufsleben ihres ehemaligen Lehrers, wie sie bei ihren Nachforschungen herausfanden, die in die Zeit des Nationalsozialismus führte.

SS-Vergangenheit in Burgsteinfurt

Beide hatten unabhängig voneinander Nachforschungen zu ihrem früheren Geschichts- und Deutsch-Lehrer begonnen und waren dabei zufällig aufeinandergetroffen, nachdem sie sich fast 40 Jahre nicht mehr gesehen hatten. Sie hatten 1968 beziehungsweise 1967 am Max-Planck-Gymnasium das Abitur abgelegt und sich danach noch gelegentlich getroffen.

Beide wanderten berufsbedingt nach Bayern beziehungsweise ins Münsterland ab, Kleinschmidt als Professor für Wirtschaftsinformatik an der Uni Passau, Schoen-Sanders als Studiendirektor am Emsland-Gymnasium in Rheine.

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Motivation für ihre Recherchen waren eigene Erinnerungen und Archivdokumente zu Flume, die sie zum Teil zufällig im Internet gefunden hatten. Aus diesen ging hervor, dass Flume in Burgsteinfurt im Münsterland als Lehrer und SS-Mann - zuletzt im Rang eines Obersturmführer - und SS-Rassebeauftragter jüdische Schüler drangsaliert hatte.

Belegt ist unter anderem, dass er seine Schulklasse des Gymnasiums Burgsteinfurt am Tag nach der „Reichspogromnacht“ im November 1938 zu einem gebrandschatzten Haus in jüdischem Besitz geführt hatte, um es zu plündern. Ein Historiker aus Burgsteinfurt, der dazu umfangreiche Studien in einem Buch veröffentlicht hatte, brachte die beiden ehemaligen Schüler auch wieder zusammen.

In einem Buch über die Geschichte jüdischer Bürger in Burgsteinfurt war Dr. Günther Flume bereits Thema.

In einem Buch über die Geschichte jüdischer Bürger in Burgsteinfurt war Dr. Günther Flume bereits Thema. © Privat

Bei Kleinschmidt und Schoen-Sanders weckte das die Erinnerungen an die Ereignisse rund um das plötzliche Verschwinden ihres Ex-Lehrers. Und sie fanden heraus, dass ebenso wie die Hintergründe der Ereignisse von 1964 auch die NS-Vergangenheit Flumes immer wieder vertuscht worden war.

Dabei war Flume alles andere als nur ein Mitläufer in der NS-Zeit, wie seine früheren Schüler ermittelten. In seiner Personalakte, die sie im Landesarchiv in Münster fanden, ist ein Bericht erhalten, in dem Flume selbst von seinem „Adolf-Hitler-Erlebnis“ bereits 1922/23 berichtet. 1936 wurde ihm von der NSDAP bescheinigt, einer der „besten Aktivisten“ zu sein und „sich jederzeit rückhaltlos für den nationalsozialistischen Staat einzusetzen“.

„Er war ein notorischer Lügner“

Es sei nicht nachzuvollziehen, dass so ein Mensch später überhaupt noch in „Gesinnungsfächern“ wie Geschichte unterrichten durfte, sind sich Kleinschmidt und Schoen-Sanders einig. Erst 1953 sei Flume, der 1947 „entnazifiziert“ worden war, wieder verbeamtet worden.

Der damalige Schulleiter Lange habe sich damals aber massiv gegen Flumes Anstellung am Max-Planck-Gymnasium gewehrt. Auch der spätere Schulleiter Koch habe 1958 versucht, ihn nach Gütersloh, dem Wohnort Flumes, „wegzuloben“.

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Aber der alte Nazi-Lehrer hatte offensichtlich auch ein großes Netzwerk von Unterstützern. „Er selbst sprach sich immer wieder mit Lügen und Beschönigungen von jeder Schuld frei“, berichtet Kleinschmidt. „Er war ein notorischer Lügner.“

Die vertuschte Vergangenheit ihres Ex-Lehrers haben Kleinschmidt und Schoen-Sanders in einer 23-seitigen Dokumentation festgehalten. Die haben sie nun auch an ihre ehemalige Schule übergeben. Schon bei ihren Recherchen waren sie dort auf offene Ohren gestoßen. Die Schulleitung, die von den Vorgängen keinerlei Kenntnis hatte, habe sehr kooperativ reagiert, merken die beiden Autoren an.

Stoff für den Geschichtsunterricht

Und auch die fertige Dokumentation hat man am Max-Planck-Gymnasium mit großem Interesse entgegengenommen, wie Schulleiterin Ute Tometten bestätigt. Die Aufzeichnungen könnten jetzt sogar Stoff im Geschichtsunterricht der Oberstufe werden.

Die Schule am Rande der Innenstadt, die auch für ihre internationalen Kontakte bekannt ist, ist ohnehin sehr aktiv im Einsatz gegen Rechts. „Wir sind Schule ohne Rassismus und Schule der Vielfalt“, erklärt Ute Tometten. Aktuell werde auch an einem Stolperstein-Projekt zur Erinnerung an eine ermordete jüdische Familie gearbeitet. „Unser Ziel ist es, mit der Vergangenheitsbewältigung zur Schärfung des Verantwortungsbewusstseins in der heutigen Zeit beizutragen“, sagt die Schulleiterin.

Das wäre wohl auch ganz im Sinne von Peter Kleinschmidt und Ulrich Schoen-Sanders. Sie haben immerhin einen Trost nach der Auseinandersetzung mit der Nazi-Vergangenheit ihres Ex-Lehrers. „Trotz Flume“, stellen sie fest, „sind wir Schüler alle gute Demokraten geworden.“

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