Rund 2000 Jüdinnen und Juden aus Dortmund wurden in der Zeit des Nationalsozialismus ermordet. Viele ihrer Geschichten sind heute vergessen. Eine Gruppe von Dortmundern und Menschen aus der ganzen Welt hat sich nun jedoch die Mühe gemacht, an die Geschichte von Bertha Wolf aus Husen, 1942 von den Nazis ermordet, zu erinnern.
Geboren wird Bertha Wolf als jüngste von sieben Kindern am 14. November 1879 in Courl (heute Dortmund-Kurl). Der Dortmunder Ortsteil ist damals ein Teil der preußischen Provinz Westfalen. Ihre Eltern sind Heimann und Rika Wolf, ihr Vater arbeitet als Metzger. Anders als viele ihre Geschwister ist Bertha nie verheiratet und hat keine Kinder.
Ihre Geschwister, die alle aus Deutschland vor den Nazis flüchten konnten, haben sich überall auf der Welt niedergelassen und Familien gegründet. Familien, die über 80 Jahre nach dem Tod von Bertha Wolf teilweise das erste Mal aufeinander getroffen sind. In Dortmund, am ehemaligen Wohnhaus ihrer gemeinsamen Großtante, am 6. Juni 2023.
Organisiert hat diese Familienzusammenführung David Bliss. Er ist eines der Enkelkinder von Berthas Schwester Amalie und ihrem Mann Felix Ruhr. Davids Mutter - Ilse Ruhr - heiratete den Amerikaner Joseph Bliss. David lebt mit seiner Familie in Chicago in den USA. Gemeinsam mit seinem Cousin Robert Goldschmidt - ebenfalls ein Enkel von Amalie Wolf und Felix Ruhr - wurde er auf das Stolperstein-Projekt des Künstlers Gunter Demnig aufmerksam.
Demnig verlegt seit rund 20 Jahren in ganz Europa „Stolpersteine“, goldene Pflastersteine, die vor ihren Wohnorten an die Todesopfer des Nationalsozialismus erinnern. Bei ihm bat David Bliss darum, dass in Dortmund-Husen ein Stein für seine Großtante verlegt wird.

Familienzusammenführung in Husen
Daraufhin ließ Bliss nichts unversucht, schrieb fleißig E-Mails und telefonierte fast durch die halbe Welt. Mit Erfolg. „Ich fühle mich sehr zufrieden und erfüllt. Ich habe eine neue Verwandte hier gefunden. Ich habe Maya noch nie vorher getroffen“, verrät David Bliss.
Er spricht von Maya Rosenbaum-Wolf, sie ist die einzige, die noch den Namen von Bertha und ihrer Familie trägt. Sie ist die Enkeltochter von Solomon „Sally“ Wolf, dem Bruder von Bertha, und wohnt in der Schweiz. „David hat mich Anfang des Jahres angerufen und mir gesagt ‚Ich bin dein Cousin.‘ Da habe ich erstmal gesagt: Stopp! Aber er hat mir dann seine Familiengeschichte erzählt und so kam der Stein ins Rollen“, erzählt sie. Über diesen Teil der Familie wusste sie vorher nicht viel, „weil meine Eltern nie darüber gesprochen haben.“ Auch aus Israel und den USA sind Verwandte von Bertha Wolf nach Dortmund gekommen.

Doch was bleibt von dem Leben der Bertha Wolf bei ihren Großnichten und Großneffen hängen? Auf der durch die katholische Hauptschule Husen organisierten Gedenkveranstaltung am 6.6. fällt das Zitat des berühmten Dichters Bertolt Brecht: „Wirklich tot ist nur derjenige, an den sich niemand mehr erinnert.“ Genau aus diesem Grund - so David Bliss - hat er diese Mühen auf sich genommen und seine vielen Verwandten in Dortmund versammelt. Um sich an die gemeinsame Großtante Bertha Wolf zu erinnern.
In mühevoller Recherchearbeit ist es unter anderem Klaudia Mierzwa gelungen, die Geschichte von Bertha Wolf eben nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Seit über 30 Jahren recherchiert sie gemeinsam mit Künstler Marcus Kiel die Geschichte von Bertha Wolf. Umso glücklicher ist sie jetzt, wo sie sieht, dass ihre Arbeit nicht umsonst war und Bertha Wolf vielen Menschen in Erinnerung bleiben wird. „Das ist auf jeden Fall ein Höhepunkt und so groß hätte man das wirklich niemals erwarten können“, sagt Mierzwa. Sie hat in den 1990er-Jahren als Lehrerin mit ihrer „Anti-Rassismus AG“ an der Hauptschule die Recherchen ins Rollen gebracht.
Textilgeschäft an der Husener Straße
Am 28. Juli 1918 - auf den Tag genau vier Jahre nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs - eröffnet Bertha Wolf ihr Textilwarengeschäft an der Husener Straße 85. Dort lebt sie außerdem gemeinsam mit ihrer Schwester Klara Dietrich (geborene Wolf) 20 Jahre lang. Während der grauenvollen Gewalttaten in der Reichspogromnacht am 9. November 1938 wird auch das Textilgeschäft von Bertha Wolf zerstört. Angeblich fuhr ein Lkw in ihren Laden. Daraufhin floh Bertha zu ihrer Mitarbeiterin Maria Müller in die Weststicker Straße. Nach der zweiten Verwüstung durch die Nazis ging sie zu Bekannten nach Kamen-Kaiserau. Dennoch kehrte sie zu ihrem Textilgeschäft zurück und betrieb es noch bis kurz vor dem Beginn des Zweiten Weltkriegs.
Heute steht zumindest die Geschäftsimmobilie an der Husener Straße 85 leer. Dort versammeln sich die Nachfahren von Bertha Wolf, um den Stolperstein zu verlegen. Autofahrer, die die Husener Straße an diesem Dienstagvormittag entlangfahren, wundern sich über die große Gruppe an Menschen, die sich in dieser sonst eher ruhigen Ecke der Stadt versammelt. Heute erinnert nicht mehr viel an das Geschäft, das „Tante Bertha“ - wie Asnat Josting Shalom sie nennt - hier betrieben hat.
Bis April 1939 betreibt Bertha Wolf den Textilladen. Dann kauft ihr Schneidermeister Ernst Knuf das Geschäft ab. Für wie viel, und ob sie es freiwillig verkauft hat, ist nicht bekannt. Dennoch wohnt sie bis Anfang Oktober 1939 mit ihrer Schwester Klara im gleichen Haus wie die Familie Knuf.
Schwester Klara schafft es anschließend, mit ihrem Mann Paul Dietrich in die USA zu flüchten. Bertha bleibt in Dortmund und wohnt fortan bei der Familie Grünwald an der Weiherstraße 57 in Dortmund. Bis zum 10. April 1942. An dem Tag wird sie nach Zamość deportiert. Danach verliert sich ihre Spur. Zuvor erklärt sie noch ihren Neffen Karl Dietrich - den Sohn ihrer Schwester Klara - zu ihrem Erben. Am 30. April 1942 wird sie für tot erklärt.
Bertha Wolf ist eine von rund 2000 Dortmunderinnen und Dortmundern, die von den Nazis im Holocaust ermordet wurden.
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