Rund 1,7 Millionen Menschen leiden an Demenz. Angehörige können nur schwer nachvollziehen, wie sich das für die Betroffenen anfühlt. Unsere Volontärin Marén Carle hat den Test gemacht.
Hastig versuche ich, den blöden dritten Knopf des Mantels zuzuknöpfen. Es klappt nicht. Schon für die ersten beiden habe ich eine gefühlte Ewigkeit gebraucht. Ich trage Gartenhandschuhe, aus denen mir die kleinen schwarzen Knöpfe immer wieder entwischen, während unser Fotograf amüsiert die Kamera auf mich richtet. „Ein Mal noch“, denke ich mir: „Das kann doch nicht so schwer sein!“ Doch der Knopf will wieder nicht ins Loch. Genervt gebe ich auf.
Einige Minuten vorher: Ich betrete den kleinen Raum in der unteren Etage des Christinenstift, Eisenmarkt 2. In dem Raum stehen Holztische, auf denen verschiedenste Gegenstände stehen und liegen: Kleidung, Murmeln, Holzkisten mit Spiegeln, Zettel und Stifte.
„Herzlich willkommen“, begrüßt mich Regina Misiok-Fisch, die Pflegedienstleiterin des Christinenstifts. Gemeinsam mit ihren Kollegen hat sie einen Parcours in dem Raum aufgebaut, bei dem jeder testen kann, wie sich Demenz-Erkrankte im Alltag fühlen.
„Ich habe in einem Fachartikel von dem Parcours gelesen und finde es eine tolle Sache“, erklärt Misiok-Fisch. Jetzt steht der Parcours hier drei Tage lang für Mitarbeiter und Angehörige. „Die Angehörigen haben wir direkt angeschrieben und eingeladen.“
Einige sitzen und stehen schon an den Tischen und versuchen die verschiedenen Stationen zu bewältigen. Ich beobachte eine ältere Dame an einem Tisch rechts im Raum. Sie trägt eine weiße Pappbrille, die aussieht wie eine 3D-Brille aus dem Kino. Mit dieser Brille auf der Nase versucht sie, einen kleinen roten Gymnastikball zu fangen und dabei Fragen zu beantworten. Eine Mitarbeiterin stellt ihr die Fragen und wirft den Ball. Es sieht ziemlich lustig aus, wie die Dame mit weißen kurzen Lockenhaaren bemüht versucht, den Ball zu fangen. Noch bin ich eine der Beobachtenden, doch das soll sich schon bald ändern.
Alltagssituationen von Menschen mit Demenz nach empfinden
Derzeit leiden rund 1,7 Millionen Menschen in Deutschland an Demenz. Betroffen sind vor allem ältere Menschen: Etwa einer von zehn der über 65-Jährigen, etwa zwei von zehn der über 80-Jährigen und fast jeder Dritte der über 90-Jährigen. Da der Anteil an älteren Menschen immer weiter wächst, wächst gleichzeitig auch die Zahl Demenzkranker. Im Jahr 2050 werden schätzungsweise 3 Millionen Menschen betroffen sein.
„Die Empathie der Gesellschaft für Demenz muss steigen, ansonsten wird das zu einem großen Problem“, fürchtet Misiok-Fisch. Und der Parcours soll durch das eigene Nachempfinden helfen, genau dieses Verständnis zu wecken. 13 Stationen stellen alltägliche Situationen aus Sicht von Demenz-Erkrankten dar. So unter anderem Einkaufen, Kochen, Autofahren, Hausarbeit oder Freizeit.
„Aufgeben kenne ich nicht“
„Man wird selber ganz schnell wütend“, berichtet Misiok-Fisch. „Ich habe bei einigen Aufgaben im Parcours aufgegeben.“
„Aufgeben kenne ich nicht“, denke ich mir und folge der Pflegeleiterin höchst motiviert zur ersten Station. Ein offener Mantel und große Gartenhandschuhe liegen auf dem Tisch. Regina Misiok-Fisch erklärt mir, was ich zu tun habe: „Sie müssen als erstes laut den Zettel mit der Aufgabe vorlesen, dabei die Handschuhe und dann den Mantel anziehen und zuknöpfen und die Aufgabe auf dem Zettel nebenbei lösen.“ Alles klar!
Ich schnappe mir als erstes die Handschuhe und beginne dabei laut zu lesen. Das Geschriebene auf dem Zettel besteht nicht nur aus Buchstaben, sondern auch aus Zahlen, es ist nicht einfach zu entziffern. Doch ich schaffe es, alles zu lesen, während ich mir den Mantel über werfe. Die Aufgabe, die auf dem Zettel steht, lautet: Zähle laut bis 36. Auch das ist kein Problem, das Zuknöpfen des Mantels mit den Gartenhandschuhen hingegen schon. „ ... 36, 37, 38, 39, 40, oh ich bin schon zu weit“, bemerke ich plötzlich, ebenfalls laut aussprechend. Misiok-Fisch lacht, ich bin in der ganzen Zeit erst beim dritten Knopf angelangt, ein Ende ist damit noch lange nicht in Sicht. Ich verzweifle so langsam, das dauert ja ewig und alle starren mich an! Ich werde hektischer, was nicht gerade dazu beiträgt, dass es schneller geht - ich gebe schließlich auf. Meine allererste Station - und schon kenne ich doch das Wort Aufgeben.

Die verschiedenen Stationen des Parcours waren ganz schön kniffelig. © Dieter Menne
„Das hilft zu verstehen, wieso älterer Menschen manchmal ewig brauchen, um etwas zu erledigen“, erklärt Misiok-Fisch: „An der Kasse zum Beispiel. Da wird man sehr schnell ungeduldig, wenn der ältere Herr vor einem super lange braucht, um die Cent-Stücke aus dem Portemonnaie zu fischen.“ Ich fühle mich ertappt. In solchen Situationen würde ich den Menschen am liebsten eine Bankkarte in die Hand drücken und freundlich darauf hinweisen, dass es damit auch geht und zwar ohne eine meterlange Schlange an der Kasse zu verursachen.
Misiok-Fisch reißt mich aus meinen Gedanken: „Die Hände der älteren Menschen wollen dann einfach nicht mehr so, wie ihr Gehirn es ihnen aufträgt.“ Ich fühle mich schlecht. Mit den Gartenhandschuhen hätte ich Stunden gebraucht, um ein paar Cent-Stücke aus dem Portemonnaie zu pulen.
Wenn das Essen nicht auf den Teller will
Bei meiner nächsten Station setze ich mich vor eine der Holzboxen mit Spiegel. Vor dem Spiegel in der Box liegen Papierknüllchen in den Farben Rot, Gelb und Grün. Sie sollen unterschiedliches Essen symbolisieren. Davor liegt ein Papier mit drei aufgezeichneten Tellern. Neben der Holzbox liegen Messer und Gabel. „Sie dürfen jetzt nur in den Spiegel schauen“, erklärt Misiok-Fisch. „Dann schnappen Sie sich Messer und Gabel und versuchen, das Essen auf den Tellern zu verteilen.“
So simpel die Anleitung, so schwierig die Ausführung. Erneut muss es völlig albern aussehen, wie ich versuche die Papierknüllchen aufzuspießen und sie dann aufgrund des Spiegels ständig in die falsche Richtung schiebe, vom Teller weg, anstatt zum Teller hin. Und das jedes Mal aufs Neue. Jedes Knüllchen, das auf einem Teller liegt, ist ein Erfolg für mich. „Bei mir hat es noch länger gedauert“, gesteht Misiok-Fisch, als ich endlich alles verteilt habe. „Einige Demenz-Erkrankte beginnen mit den Fingern zu essen, dann ist es einfacher und geht schneller. Ich glaube, das mache ich dann auch so“, meint die Pflegeleiterin und grinst. Ich stimme ihr nickend zu, so ist das mit Messer und Gabel schon echt anstrengend.

Schon das Essen auf Tellern zu sortieren ist eine Herausforderung. © Dieter Menne
„Durch die Demenz ändern manche ihr Verhalten und werden auf einmal schnell grantig, obwohl sie ihr Leben lang ganz liebenswerte Personen waren“, so Misiok-Fisch. Ich bekomme durch diese simplen Simulationen langsam einen Einblick und kann diese Reaktion super gut nachvollziehen. Ich bin schon nach ein paar Minuten Papierknüllchen hin- und herschieben frustriert. Logisch, dass Demenz-Erkrankte das auch werden, wenn es ihnen in allen Alltagssituationen so geht. Wenn nichts mehr so funktioniert, wie es mal geklappt hat. Wenn die Körperteile nicht mehr machen, was sie sollen und alles schwieriger wird.
„Wir wollen Angehörige und Mitarbeiter mit dem Parcours sensibilisieren. Wir wollen ihnen vor allem zeigen, dass es nicht richtig ist, die Demenzerkrankten anzuschreien und mit ihnen zu schimpfen, wenn sie lange für etwas brauchen oder etwas nicht mehr hin kriegen.“
Ich versuche mich an zwei weiteren Stationen mit Box und Spiegel: Auf dem Papier Auto fahren - ich fahre in die falsche Richtung - und Murmeln der Reihenfolge nach mit einem Löffel in kleine Pappbecher füllen - ich schmeiße dabei eher alle Pappbecher der Reihenfolge nach um.
Als Letztes setze ich mich an den Tisch mit der Brille und dem kleinen roten Gymnastikball. Die Mitarbeiterin legt mir einen Zettel auf den Tisch. Auf ihm stehen Begriffe und es sind Bilder aufgemalt. Allerdings passen die gemalten Begriffe nicht zu den schriftlichen. „Sie haben jetzt eine Minute Zeit, sich alle Begriffe einzuprägen.“ Verdammt, bei so was war ich noch nie gut! Die Minute ist vorbei und ich habe nicht das Gefühl, mir auch nur einen einzigen Begriff gemerkt zu haben. Und es wird noch besser: Als Nächstes soll ich mir eine blaue Brille aufsetzen mit geändertem Glas, das mein Sehvermögen einschränkt. Dann wirft mir die Mitarbeiterin den roten Ball zu und sagt einen Buchstaben. Ich muss den Ball fangen, zurück werfen und einen Begriff von dem Zettel nennen, der mit dem Buchstaben beginnt.

Ein Blick durch die Brille zeigt: So schlecht kann das Sehvermögen sein. © Dieter Menne
Meine Befürchtungen treffen ein: Beim ersten Buchstaben fällt mir noch ein Begriff ein, beim zweiten auch - allerdings einer, der gar nicht auf dem Zettel stand - und beim dritten, vierten, fünften, sechsten schon keiner mehr. Und so muss ich, enttäuscht von mir selbst, auch bei meiner letzten Station: aufgeben.
Defizite leugnen: „Alles gut, ich kriege das noch hin.“
Ich kann jetzt verstehen, dass viele Menschen mit Demenz zu Beginn der Krankheit versuchen, ihre Defizite zu verbergen. Es ist wirklich deprimierend, trotz großer Bemühungen, vor den Augen anderer so zu versagen.
„Alles gut, ich kriege das noch hin“, behauptet auch meine Oma immer wieder. Und nein, es ist nicht immer einfach entspannt zu bleiben, wenn sie zum zehnten Mal die gleiche Frage stellt oder wir erneut erklären müssen, dass es wirklich keine gute Idee ist, dass sie wieder mit dem Autofahren anfängt. Aber ich liebe meine Oma und auch wenn es anstrengend ist, ihr etwas immer und immer wieder zu erklären, würde ich’s am liebsten für immer tun.
Und ich bin mir sicher, dass ich bei all den Situationen an den Parcours zurück denken und mich erinnern werde, wie ich mich in der Situation gefühlt habe. Ich werde garantiert ruhiger reagieren, als ich es bisher getan habe. Und dafür finde ich den Parcours klasse, um wirklich einen Eindruck zu kriegen, wie schwierig jede einzelne Alltagssituation durch die Demenz wird.
- Die Alzheimer-Krankheit ist die häufigste Form der Demenzerkrankung. Von den derzeit rund 1,7 Millionen an Demenz erkrankten Menschen leiden rund 2/3 an Alzheimer.
- Namensgeber der Alzheimer-Krankheit ist ihr Entdecker Dr. Alois Alzheimer. Er war Arzt an der Psychiatrischen Universitätsklinik München. 1906 untersuchte der das Gehirn einer verstorbenen Patientin. Die war über mehrere Jahre so vergesslich geworden, dass sie ihren Ehemann nicht mehr kannte und selbst ihren Nachnamen nicht mehr wusste. In der Untersuchung stellte sich das Gehirn als stark verändert heraus: Es war geschrumpft.
- Seit dieser Entdeckung hat die Forschung viel raus gefunden. Heute wissen wir: Im Gehirn der Betroffenen sterben über viele Jahre Nervenzellen und Nervenzellverbindungen ab. Das gilt insbesondere für jene Regionen, die für Gedächtnis, Denken, Sprache und Orientierung zuständig sind.
- Alzheimer lässt sich nicht heilen, aber behandeln. Je früher die Behandlung beginnt, desto besser.
- Wer sich fit hält und gesund ernährt, kann das Risiko, im Alter an Alzheimer zu erkranken, um bis zu 60 Prozent senken. Das fanden Wissenschaftler der Columbia-University in New York heraus.
Aus einer beschaulichen Stadt in der Nähe von Bielefeld ins lebendige Dortmund gekommen. Super neugierig und kann besser mit Wörtern Bilder malen als mit dem Pinsel. Hat darum Journalismus und Moderation studiert. Sport- und musikbegeistert.
