
Das Abheben von der Massengesellschaft
Tattoos dienen Selbstdarstellung sagt der Psychiater
Je nach Studie soll bereits jeder fünfte bis zehnte Deutsche tätowiert sein. Tendenz: stark steigend. Was sagt der Psychiater zu der um sich greifenden Vorliebe junger wie alter Menschen, sich von Kopf bis Fuß stechen zu lassen?
Was steckt hinter der schon so lange anhaltenden Vorliebe, sich unter Schmerzen den eigenen Körper bemalen zu lassen, wollte diese Redaktion von Hans-Joachim Thimm wissen, Oberarzt der psychiatrischen LWL-Klinik in Aplerbeck.
Herr Thimm, warum hält der Trend zu Tattoos seit weit über zwei Jahrzehnten schon an und verschärft sich eher noch?
Der Mensch ist ein vernunftbegabtes Wesen, verhält sich aber nicht immer vernünftig. Schlechte Angewohnheit, Süchte, selbstverliebtes oder aggressives manchmal rücksichtsloses Verhalten zeigen dies. Beim Stechen von Tattoos werden etwaige gesundheitlich Folgen sicher verdrängt oder bagatellisiert. Tattoos üben für Menschen unterschiedliche Reize aus, entsprechend können die Motive für das Tragen eines Hautbildes sehr verschieden sein.
Und zwar?
In vielen Gesellschaften war das Stechen von Tattoos ursprünglich ein Zeichen für die Aufnahme in die Erwachsenenwelt. Den Schmerz beim Stechen zu erleiden, das galt und gilt als erwachsen. In zahlreichen Kulturen sind Tattoos auch Kennzeichen sozialer Rangfolgen oder Kasten. Auch heute lassen sich Jugendliche mit Erreichen der Volljährigkeit eine Tätowierung stechen.
Tattoos sind also Zugehörigkeitssymbole. Sie werden zu Mitgliedszeichen. Deshalb sind sie in sozialen Gruppen sehr beliebt. Fußballfans tragen das Vereinswappen auf der Haut. Seeleute tragen sie seit Jahrhunderten. Rockergangs stechen sich oft ihre Gruppenzeichen in die Haut. Häufig werden dabei rituelle oder sakrale Symbole verwendet. Auch Knastinsassen machen es so. Sie stechen sich drei oder fünf Punkte zwischen Daumen und Zeigefinger. Gleichzeitig dienen Tattoos der Abgrenzung von anderen.
Genau. Wollen sich die Leute mit Tattoos denn nicht eher individualisieren?
In unserer Massengesellschaft scheint das individuelle, das Selbst, das was uns unverwechselbar ausmacht, mehr und mehr verloren zu gehen. Menschen scheinen ihre Persönlichkeit, ihren Stil durch Schmuck, Kleidung, Mode et cetera nicht mehr hinreichend ausdrücken zu können. Tattoos dienen der Selbstdarstellung, können manchmal Zeichen von Geltungssucht sein. Ich mache etwas aus mir, ist die Botschaft. Die Mode, sich Tattoos stechen zu lassen, folgt einem Trend.
Warum ist die eigene Gesundheit dabei so unwichtig? Warum kümmert es niemanden, dass sich hochgiftiges Quecksilber und Cadmium in den Farben befinden kann?
Ein Tattoo erregt die Aufmerksamkeit anderer. Von den Tattooträgern wird es nicht selten als ihr außergewöhnliches und einzigartiges Zeichen bewertet. Möglicherweise ist es der Versuch, die eigene Bedeutungslosigkeit zu überwinden. Tätowierungen sagen der Welt: Ich habe die Macht, mich und meinen Körper zu gestalten. Der Körper wird zur Repräsentationsfläche, er dient als Träger einer Botschaft. Wenn ich aus meinem Körper etwas mache, wirkt das wie ein Seelenstärker.
Tattoos können auch eine Ausdrucksmöglichkeit für Protest, die in die Haut geritzte gesellschaftliche, politische Stellungnahme sein.
Bei Fußballern scheint das martialische Aussehen, welches oft durch tapetenartige, flächendeckende Tattoos hervorgerufen wird, auch Ausdruck der eigenen Physis zu sein: „Seht her, ich bin besonders, unüberwindbar und stark.“
Warum hält man Schmerzen aus, wo sie gar nicht nötig wären? Und gibt dazu noch viel Geld aus?
Mitunter empfinden Menschen den Schmerz, der beim Stechen der Tattoos empfunden wird, als eine Form der Selbstkasteiung. Sich Schmerzen zuzufügen, um sich wieder zu spüren, ist ein Symptom, welches bei unterschiedlichen psychischen Störung zu beobachten ist.
Ulrike Böhm-Heffels wurde 1956 in Dortmund geboren. Sie ist seit 1976 journalistisch für die Ruhr Nachrichten tätig. Zu ihren Schwerpunkten zählen gesundheitspolitische Berichterstattung, soziale Themen, aber auch gastronomische.