Carsten* (45) wollte wieder 30 und frei sein Was macht die Midlife Crisis mit Männern, Benedikt Bock?

Von Benedikt Bock
Carsten* (45) wollte wieder 30 und frei sein: Was macht die Midlife Crisis mit Männern, Benedikt Bock?
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Carsten (Name und Fallmerkmale geändert) kommt zu mir im typischen Alter von 45. Er ist verheiratet, seine 3 Kinder sind zum Teil in der Pubertät und beginnen, viel Zeit mit Gleichaltrigen zu verbringen. Er betreibt ein gut laufendes Unternehmen, das er in jungen Jahren gegründet hat.

Seine Ehe ist „eigentlich“ gut, es gibt wenig Streit, er und seine Frau sind ein gutes Team. Sein Leben kann man von außen betrachtet also als „gelungen“ bezeichnen.

Aber seit er mit Freunden wie jedes Jahr im Osten Deutschlands auf einer Radtour war, hat ihn eine Unruhe erfasst. Auf einem der Campingplätze kam er mit einer Gruppe junger Leute ins Gespräch, sie boten ihm einen Joint an, mit einer der Frauen hat er sich dann tief unterhalten.

Gekichert und gelacht haben sie schließlich, er erzählte ihr, wie er mit seiner ersten Freundin damals mit einem Kasten Bier durch die Straßen lief und Passanten angepöbelt hat. Wie frei war er doch damals und wie festgelegt jetzt. Kunst wollte er studieren, er konnte gut illustrieren, aber er hat nie eine Mappe gemacht.

Sein Leben erscheint ihm starr und eingefahren, seine Ehe leblos. In seinem Unternehmen kämpft er mit den Alltagsroutinen, es entstehen keine neuen Ideen mehr, und sie müssen auch nicht entstehen, weil das Geschäft auch so gut läuft.

Was ist die Midlife Crisis?

Menschen sind komplexe Systeme in ständiger Entwicklung. Ihr Leben ist ein Prozess. Allerdings ist dieser Prozess weder eindimensional noch geradlinig. Phasen relativer Beständigkeit wechseln sich mit Phasen beschleunigter Entwicklung ab, die als wenig stabil erlebt werden.

Bei Kindern kennt man die Autonomiephase oder das „Trotzalter“ und im Jugendalter die Pubertät, zwei Phasen, in denen das einst so niedliche Kind widerständig und unberechenbar wird.

Im Erwachsenenalter sticht eine krisenhafte Zeit heraus, auf die man vor allem bei Männern belächelnd schaut: die Krise der Lebensmitte, neudeutsch „Midlife Crisis“. Sie kann sich schon mit 35 bemerkbar machen, manchmal auch erst mit 50 bis 55, oft um die 45.

Man ordnet sie eher Männern zu und belächelt sie dann gerne. Nicht jeden betrifft sie gleich, aber so sehr sie belächelt wird, so ernst kann sie sein. Denn sie ist eine Zeit der großen Fragen und Zweifel. Wie bei Carsten.

Alles hinwerfen und Kunst studieren?

Zurück zu Hause hat er dann seiner Frau erzählt, dass er überlegt, die Geschäftsführung seiner Firma jemandem zu übertragen, vielleicht die Firma auch zu verkaufen. Er möchte noch einmal studieren, vielleicht Kunstgeschichte, das wäre nah an dem, was er mal wollte.

Seine Frau hielt aber nichts davon, fragte ihn, wie das gehen solle, er hätte Familie, sie hätten eine gemeinsame Pflicht den Kindern gegenüber. Da fragt er sich, ob er sie vielleicht nicht mehr liebt, ob sie ihn noch liebt. Sonst würde sie ihn doch verstehen, ihm seine Entwicklung lassen, jetzt, wo er doch weiß, was ihm wirklich wichtig im Leben ist.

Stattdessen hat sie ihm meine Adresse herausgesucht. Er sei von Sinnen, er solle mal mit jemandem reden, hat sie ihm dazu gesagt.

Eine Ansammlung kleiner Tode

Die Lebensmitte kann bisweilen wie eine Ansammlung kleiner Tode erscheinen. Dem Menschen wird stärker bewusst, dass sein Leben endlich ist. Es wächst die Erkenntnis, dass nicht mehr alles, was man sich einmal erträumt hat, zu verwirklichen ist, sondern dass man sich von dem einen oder anderen verabschieden muss.

Man kann nicht mehr auf ein Gleis wechseln, von dem man vor Jahren abgezweigt ist. Die körperliche Vitalität zeigt Schwächen, der wachsende Sohn schwimmt plötzlich schneller als der Vater. Immer mehr Menschen, denen man auf der Straße begegnet, sind jünger als man selbst.

Abschied erfordert Trauer. Die ersten Phasen der Trauer sind Leugnung und Geschäftigkeit. Mit den jungen Leuten auf dem Campingplatz bekommt Carsten die Illusion, er müsse nur die Fesseln seines Lebens abwerfen, um wieder da zu sein, wo diese Leute sind.

Er müsse einfach so tun, als wäre das alles nicht da. Wenn er so tief mit einer jungen Frau spricht, wenn sie ihn so interessiert anschaut, wenn er mit ihr ungezwungen einen Joint raucht, dann ist er selbst wieder unter 30 und er hat alles vor sich.

Seine Frau wird nun zu seinem Feind, denn sie konfrontiert ihn mit dem Prinzip der Realität. Später wird sie seine Trauerbegleiterin, wenn sich Leugnung und Geschäftigkeit nicht mehr aufrechterhalten lassen. Es hat doch so einige Sitzungen gebraucht, bis Carsten mehr und mehr klar wurde, dass er vor dieser Trauer davonlief. Die Midlife Crisis ist somit nicht nur für den Betroffenen, sondern auch für seine Partnerin eine Herausforderung, ähnlich wie die Pubertät eines Jugendlichen.

Carstens Trauer ist vorbei

Carsten ist es schließlich gelungen, nach einer Phase der Trauer die alten Sehnsüchte dazulassen, wo sie sind: in der Vergangenheit. Er trauert nicht mehr dem hinterher, was er nicht verwirklicht hat, sondern er schaut mit einem gewissen Stolz auf das, was er erreicht hat.

So wenig Leben hat er schließlich statistisch gesehen auch nicht vor sich, und auf dem Gleis, für das er sich aus guten Gründen entschieden hat, gibt es noch viele Weichen und Neues. Kunst, so erkennt er, kann er sogar freier betreiben, wenn sie sich nicht wirtschaftlichen Zwängen unterordnen muss. Sein Unternehmen kann er in den nächsten zwanzig Jahren noch gut weiterentwickeln.

Seiner Frau konnte er ein bisschen dankbar sein, denn sie hat seine „Grillen“ ausgehalten, was ihr nicht leichtfiel. Vielleicht kann er sich revanchieren, wenn die Wechseljahre bei ihr Fragen aufwerfen und sie sich mit Veränderungen auseinandersetzen muss, die sich dann nicht leugnen lassen. Zum Glück ist das Leben ein offener Prozess.

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