Gianluca (15) und Pauline (18) haben eine Bitte „Unsere Lehrer dürfen nicht weggehen!“

Gianluca (15) und Pauline (18): „Unsere Lehrer dürfen nicht weggehen!“
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Gianluca (15) und seine Schwester Pauline (18) kommen aus Schwerte. Ihre Schule ist die Georgschule in Dortmund-Brünninghausen. Jeden Tag fahren sie und 18 weitere Kinder aus Schwerte mit dem Bus zu ihrer Schule an der Mergelteichstraße, in unmittelbarer Nähe des Dortmunder Zoos. Bei einem kleinen Rundgang durch das verwinkelte blaue Gebäude der Waldorf-Förderschule zeigen sie stolz, was ihre Schule zu etwas Besonderem macht.

„Jeder Klassenraum hat eine andere Farbe und Form, das gefällt mir“, sagt Gianluca. Und Pauline zeigt auf die bunten Mosaike, die sich durch den Flur ziehen. „Es ist wirklich schön hier, am besten gefällt mir unsere Theaterbühne“, sagt sie. Dann wird Pauline ernst. „Aber wenn jetzt Herr Frische und die anderen gehen müssten, das wäre schrecklich.“ Ihr Bruder pflichtet ihr bei: „Für uns alle wäre das unvorstellbar.“

Seiteneinsteiger in Gefahr

„Herr Frische und die anderen“, das sind der 62-jährige Martin Frische, zwei weitere Lehrerkollegen und eine Kollegin. Sie alle sind Quereinsteiger, die seit mehreren Jahren die 170 Schülerinnen und Schüler der Georgschule unterstützen. Doch zum nächsten Schuljahr müssen sie vermutlich gehen, und die Kinder und Jugendlichen verlieren vier vertraute Menschen. Der Grund: Die neue Landesregierung hat die Ersatzschulverordnung „novelliert“.

Über die paradoxe Situation hatten wir zuletzt mehrfach berichtet: In den 14 Waldorf-Förderschulen in NRW sind insgesamt 450 Lehrkräfte beschäftigt, davon 250 als Seiteneinsteiger. Um an einer Waldorf-Förderschule arbeiten zu können, muss man jedoch eine zweijährige sonderpädagogische Zusatzausbildung absolvieren – was alle Seiteneinsteiger auch tun. Doch bei 50 von ihnen ist diese Ausbildung noch nicht komplett abgeschlossen.

In den vergangenen Jahren war es daher gelebte Praxis, eine befristete Genehmigung zu erteilen, bis die Ausbildung abgeschlossen ist. „Mit dieser Regelung waren alle glücklich“, sagt Stefan Sonnabend, Geschäftsführer und Lehrer der Dortmunder Georgschule. „Der Arbeitsmarkt war schon immer leer, und dann kam Corona. Wir brauchten Quereinsteiger. Damals hieß es aus dem Schulministerium, man könne das so machen. Jetzt ist es plötzlich anders.“

Für die Kinder, Jugendlichen und ihre Eltern sowie die Lehrkräfte stoßen in diesem Moment Realitäten aufeinander. Denn an Waldorf-Förderschulen werden Kinder unterrichtet, die unter anderem Bindungs- und Vertrauensprobleme haben. Stefan Sonnabend: „Wir brauchen einen gehaltvollen Unterricht, der unseren besonderen Kindern und Jugendlichen angemessen ist.“

Lehrer an der Georgschule in Dortmund-Brünninghausen
In zwei Jahren hat Martin Frische ein gutes Verhältnis zu seinen Schülerinnen und Schülern aufgebaut. „Ich möchte gerne hier bleiben“, sagt er. © Martina Niehaus

Die Schüler schwärmen

Martin Frische ist einer dieser Lehrer. Er hat sein 1. Staatsexamen für die Sek II vor Jahrzehnten gemacht, und anschließend jahrelang in der Medienbranche gearbeitet. Seit zwei Jahren unterrichtet er an der Georgschule – Englisch und Medienpädagogik.

„Endlich haben wir richtig tollen Englischunterricht“, schwärmt Pauline für ihren Lehrer. Und Gianluca ergänzt: „Bei Herrn Frische ist es schön. Er klatscht uns nicht einfach Zettel hin und sagt: Macht mal. Das macht hier sowieso keiner. Wir lernen jetzt richtig Englisch zu sprechen.“

Eine weitere Kollegin, Esther Adams, hat ein Diplom als Waldorfklassenlehrerin abgelegt. Ihre Zusatzausbildung wird im Sommer 2024 abgeschlossen sein. Dann ist da noch Paul Berge: Er hat neben dem Bachelor und Referendariat in den USA einen Master in Finnland abgelegt, mehrere Jahre in NRW an einer privaten Schule und als Dozent für Grundschuldidaktik an der Uni Dortmund gearbeitet. Auch er wird die Zusatzausbildung 2024 abschließen.

Doch diese Lehrkräfte dürfen laut Verordnung vermutlich bald nicht mehr an der Georgschule arbeiten.

Verzweifelte Lehrkräfte

Ein Skandal, findet die SPD-Landtagsabgeordnete und schulpolitische Sprecherin Dilek Engin. Sie ist Oberstudienrätin – und hat jetzt vor der nächsten Sitzung des Ausschusses für Schule und Bildung der Landesregierung am 15. März um einen schriftlichen Bericht gebeten.

„Wir haben von verschiedenen Stellen verzweifelte Anfragen von Lehrkräften, Schülerinnen und Schülern sowie ihren Eltern erhalten“, sagt sie. „Die verstehen die Welt nicht mehr. Was soll das? Wir sind doch froh, wenn die Menschen, die einen Quereinstieg wagen, an den Schulen bleiben wollen.“

In ihrer Anfrage stellt sie daher die Frage an die Landesregierung, warum man von der gelebten Praxis abweiche – und was man jetzt zur Unterstützung der Schulen zu tun gedenke. „Ich erwarte eine Antwort noch vor dem 15. März“, sagt Dilek Engin. Die Pandemie habe die Probleme des Bildungssystems zugespitzt. „Ich war auch Lehrerin und sehe: Es gibt so vieles, was jahrelang falsch gelaufen ist.“ Wichtig seien an dieser Stelle die Kinder und Jugendlichen, die eine Beziehung zu ihren Lehrkräften brauchten.

Georgschule in Dortmund
Drei, die sich verstehen: Gianluca und Pauline mit ihrem Englischlehrer Martin Frische. © Martina Niehaus

„Kein Spielraum“

Was sagt das Schulministerium dazu? Nach der bisherigen Aussage von Schulministerin Dorothee Feller würden keine Bedenken bestehen, wenn Studierende oder Quereinsteiger „unter Anleitung einer verantwortlichen Fachlehrkraft“ Unterricht erteilten. „Für ein weiteres Entgegenkommen sehe ich leider keinen Spielraum“, hatte Dorothee Feller im November 2022 in einer Antwort auf eine Anfrage der Landtagsabgeordneten Anja Butschkau (SPD) zu dem Thema mitgeteilt.

Für Martin Frische und andere Betroffene ist das keine Alternative: „Das bedeutet, dass wir weiter arbeiten dürften, aber jemand müsste den Unterricht begleiten. Und wir würden für die Arbeit nicht bezahlt werden, müssten aber unsere Zusatzausbildung weiterfinanzieren. Das ist schon irgendwie eine Unverschämtheit.“

Jetzt hofft Martin Frische, dass sich noch etwas tut. Er könnte mit seinen Qualifikationen an einer anderen Schule arbeiten, möchte aber an der Georgschule bleiben. Denn auch er hat seine Schülerinnen und Schüler lieb gewonnen. Gianluca lobt ihn: „Sie haben sich richtig schnell bei uns integriert“, sagt er und lacht.

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