Kampf mit Bohnenstangen und Gewehren Tote und Verletzte bei Mai-Unruhen vor 100 Jahren in Dortmund

Kampf mit Bohnenstangen und Gewehren: Tote und Verletzte bei Mai-Unruhen
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Mit passivem Widerstand reagierte die Bevölkerung mit Unterstützung der Reichsregierung in Dortmund und anderen Städten des Ruhrgebiets auf die Besetzung durch französische Truppen ab Januar 1923. Es gab aber auch innenpolitische Auseinandersetzungen. Im Mai 1923 streikten Bergleute in Dortmund. Und kommunistische Gruppen versuchten, das politische Vakuum zu nutzen.

Anlass dafür bot die schwierige wirtschaftliche Situation, in die die Ruhrgebiets-Wirtschaft geraten war. Die Arbeitslosigkeit stieg rapide. Vor allem aber kam es zu einer galoppierenden Inflation. Innerhalb von zwei Monaten waren die Lebensmittelpreise im Frühjahr 2023 um 80 bis 100 Prozent gestiegen. Ein Kilo Roggenbrot kostete im April 1923 474 Mark, im Juni 1233 Mark, der Preis für ein Kilo Butter stieg im gleichen Zeitraum von 17.800 auf 30.000 Mark.

Allen voran die Bergleute, deren Arbeit in der Zeit der französischen Besatzung eine besondere Rolle spielte, drängten auf Lohnausgleich für die gestiegenen Lebenshaltungskosten. Für die erste Mai-Hälfte wurde den Bergleuten vom Schlichtungsausschuss des Reichsministeriums in Berlin eine Lohnerhöhung von 1740 Mark bewilligt. Am 15. Mai sollte der Lohn um 3500 Mark erhöht werden. Doch das war bei weitem nicht genug, um die galoppierende Inflation auch nur annähernd auszugleichen.

Die Bergarbeiter forderten eine Lohnerhöhung um 50 Prozent, später eine Teuerungszulage von 150.000 Mark. Als dies abgelehnt wurde, traten am 16. Mai 1923 die Bergarbeiter der Zechen Kaiserstuhl I und II, Hoesch-Zechen in der Nordstadt, in den Streik. Und sie versuchten, die Bergleute anderer Zechen mitzuziehen. Abordnungen marschierten zu den Zechen Scharnhorst, Dorstfeld, Tremonia und Minister Stein.

Historische Aufnahme: Ein französischer Soldat bewacht einen mit Kohlebriketts beladenen Zug
Der Bergbau spielte eine besondere Rolle im Ruhrkampf. Hier bewacht ein französischer Soldat einen mit Kohlebriketts beladenen Zug. © Stadtarchiv Essen

Hier kam es vor den Toren der Evinger Zeche zu einer ersten Eskalation als eine Polizei-Einheit versuchte, die Bergleute aufzuhalten. Mit ihrem Einsatz konnten die Polizisten das Ausbreiten des Streiks allerdings nicht verhindern.

Im Gegenteil: Nicht nur die Kumpel von Minister Stein, sondern auch anderer Zechen schlossen sich dem Ausstand an. Am Abend gab es eine große Streikversammlung im Fredenbaum-Saal. Von dort zog eine Demonstration von 2000 Bergarbeitern zur Zeche Minister Stein.

Die Polizei ging erneut massiv gegen die Demonstranten, die auch von der Bevölkerung in der Nordstadt und Eving unterstützt wurden, vor. Mit Steinen und Bohnenstangen setzten sich die Arbeiter gegen die Polizei zur Wehr, wie es in zeitgenössischen Schilderungen heißt. Die Polizei reagierte mit Schüssen. Das bittere Ende: Ein Bergarbeiter wurde durch Schüsse tödlich getroffen.

Historische Aufnahme: Die Zeche Minister Stein in Dortmund-Eving
Vor der Zeche Minister Stein in Eving kam es zu ersten Auseinandersetzungen zwischen Streikenden und der Polizei. © Sammlung Cramm

Und die französischen Besatzer? Sie schauten bei den Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Streikenden tatenlos zu oder unterstützen die Arbeiter sogar aktiv. Offenbar kam es ihnen gelegen, einen Konflikt zwischen der deutschen Regierung und der Bevölkerung anzuheizen, in der Hoffnung, den passiven Widerstand so aufbrechen zu können.

Polizei war geschwächt

Auch der Umstand, dass die Polizei geschwächt war, hatte mit Maßnahmen der französischen Besatzung tun. Anfang 1920 hatte die Reichsregierung das Polizeiwesen neu geordnet. Danach wurde die alte kommunale Polizei in blauen Uniformen durch eine einheitliche „grüne“ Polizei unter preußischem Kommando abgelöst. In weiten Teilen des Ruhrgebiets war diese Ablösung schon abgeschlossen, in Dortmund aber noch in vollem Gange als Anfang 1923 französische und belgische Truppen in die Stadt einmarschierten.

Die Besatzer versuchte, die Macht der „grünen“ Polizei zu brechen, die loyal zur preußischen Regierung stand. Im März war die staatliche Schutzpolizei von der Besatzung aus Dortmund ausgewiesen. Französische Soldaten hatten die Kaserne der Schutzpolizei umstellt und zwangen die 270 Polizisten, das besetzte Gebiet zu verlassen.

Polizei schmuggelte Waffen

Zurück blieben gerade einmal 220 verbliebene Stadt-Polizisten, deren Arbeit auch noch dadurch erschwert wurde, dass sie von den Besatzern entwaffnet worden waren. Doch die „grüne“ Polizei nahm ihre Aufgabe, für Recht und Ordnung zu sorgen, weiterhin ernst und rüstete sich heimlich auf.

Während der Mai-Unruhen, so wird berichtet, habe die Polizei heimlich Waffen ins besetzte Gebiet geschmuggelt, indem man Pistolen und Gewehre in Särgen versteckt hatte, die von einem Sargschreiner aus Brackel für Bestattungen auf dem Hauptfriedhof geliefert wurden. Brackel lag außerhalb der besetzten Zone, der Hauptfriedhof innerhalb.

Kommunistische Gruppen

Auf der anderen Seite wurde der Konflikt von kommunistischen Gruppen angeheizt, die die Auseinandersetzung um Löhne dazu nutzen wollten, einen Staatsstreich nach russischem Vorbild in die Wege zu leiten. An den Treffpunkten der Kommunisten in der Nordstadt kam es in den nächsten Tagen immer wieder zu Auseinandersetzungen mit der Polizei.

Der Streik der Bergarbeiter weitete sich derweil aus. Auch Teile der Hoesch-Belegschaft schlossen sich den Arbeitsniederlegungen an. Am 20. Mai wurde auf einer Betriebsrätekonferenz im Fredenbaum-Saalbau, angeführt von der kommunistischen „Union der Hand- und Kopfarbeiter“, zu einem Generalstreik im gesamten Ruhrgebiet aufgefordert.

Tatsächlich streikten am 22. Mai, am Dienstag nach Pfingsten, in Dortmund fast alle Großbetriebe. Rund 40.000 Arbeiter versammelten sich am Nachmittag am Fredenbaum. Weil der Saalbau dazu nicht ausreichte, wurde auch der dazugehörige Garten mit in Beschlag genommen. Von dort aus zogen die Streikende in einem langen Demonstrationszug zum Hansaplatz.

Historische Aufnahme: Der große Saalbau am Fredenbaum im Jahr 1923
Der große Saalbau am Fredenbaum war ein Versammlungsort für die Streikenden. © Archiv

Auf dem Weg sollten die Auseinandersetzungen mit der Polizei endgültig eskalieren. Erneut kam es zu schweren Zusammenstößen. Ausgelöst worden seien sie durch Provokationen und Schüsse durch Demonstranten auf Ordnungskräfte, heißt es in offiziellen Berichten.

Das bittere Ende: Fünf Polizeibeamte verletzt, ein Polizist durch einen Bauchschuss getötet. Aufseiten der Demonstranten gab es 22 Verletzte und drei Tote.

Forderungen wurden erfüllt

Streiks und Demonstrationen stoppte auch das nicht - wobei sich die Polizei in den nächsten Tagen zurückhielt. Die Arbeitsniederlegungen weiteten sich auf andere Branchen und andere Städte des Ruhrgebiets aus.

Während der zweiwöchigen Auseinandersetzungen, die in Dortmund ihren Ausgang genommen hatten, wurden so schätzungsweise rund 300.000 Arbeiter im gesamten Ruhrgebiet mobilisiert.

Historische Aufnahme: Ein Plakat der Bergarbeiter
Bergarbeiter spielten eine besondere Rolle beim passiven Widerstand gegen die französischen Besatzung. Plakate heizten die Stimmung an. © WWA

Und die Streiks zeigten Wirkung. Vereinzelt wurden in Betrieben Vereinbarungen für höhere Löhne geschlossen, die den Forderungen der Streikenden entsprachen. Schließlich verkündete Staatskommissar Ernst Mehlich am 28. Mai, dass die Forderungen der Bergarbeiter erfüllt werden sollten.

In Berlin wurde ein Lohnabkommen vereinbart, nach dem der Durchschnittslohn ab 1. Juni auf 28.752 Mark steigen sollte. Am 30. Mai empfahl die zentrale Streikleitung den Abbruch des Arbeitskampfes. Und die Kommunisten mussten ihre Hoffnung auf eine deutsche Revolution in ihrem Sinne aufgeben.

Sie sollten immerhin politisch von der besonderen Lage profitieren. Bei den Stadtverordnetenwahlen in Dortmund am 4. Mai 1924 wurde die KPD mit 20 Sitzen auf Anhieb stärkste Kraft, während das Zentrum auf 14 und die SPD nur auf 11 Sitze kamen.

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