Wie ein Dortmunder Bahnwärter zum Märtyrer im Ruhrkampf wurde Tod durch Schuss in der Nacht

Wie ein Dortmunder Bahnwärter zum Märtyrer im Ruhrkampf wurde
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Als Ruhrkampf sind die Ereignisse vor genau 100 Jahren in die Geschichte eingegangen. Ab Januar 1923 besetzten französische Truppen das Ruhrgebiet und damit auch weite Teile von Dortmund, um ausgebliebene Reparationsleistungen Deutschlands nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg zu erzwingen. Das Wort Kampf kann man wörtlich nehmen. Denn es gab zum Teil erbitterte Auseinandersetzungen zwischen der deutschen Bevölkerung und den Besatzern - und auch Todesopfer.

An eines dieser Todesopfer erinnert eine unscheinbare und verwitterte Gedenktafel an einer Eisenbahn-Unterführung an der Straße Hohle Eiche im Dortmunder Süden. „Am 9. III. fiel im Ruhrkampf in Erfüllung seiner Pflicht als Opfer der Besatzung der Weichenwärter Franz Hölling aus Dortmund“, steht auf der Tafel. Der Dortmunder Heimatforscher Tilo Cramm, der sich vor allem mit der Industriegeschichte im Dortmunder Südwesten beschäftigt, ist dem Rätsel, das die Tafel aufgibt, auf die Spur gegangen. Cramm hat unter anderem im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz recherchiert und die tragische Geschichte rekonstruiert.

Nur noch schwer zu entziffern ist die Gedenktafel für Bahnwärter Hölling an der Bahnbrücke an der Hohlen Eiche.
Nur noch schwer zu entziffern ist die Gedenktafel für Bahnwärter Hölling an der Bahnbrücke an der Hohlen Eiche. © Oliver Volmerich

Die Eisenbahn spielte für die Franzosen im Ruhrgebiet eine wichtige Rolle beim Abtransport der beschlagnahmten Kohlen- und Koksmengen. Doch das Bahnpersonal leistete wie viele Beschäftigten in Betrieben und Verwaltung unterstützt von der deutschen Reichsregierung passiven und teils auch aktiven Widerstand gegen die Besatzer. Ab dem 2. März 1923 übernahm die französische Besatzung deshalb im besetzten Gebiet Verwaltung und Betrieb der Reichsbahn in eigener Regie, berichtet Cramm.

Das gelang aber nicht überall: „Wegen noch zu geringen eigenen Personals fielen anfangs nur die nördlichen und südlichen Randbahnen des Ruhrgebiets unter französische Bahnverwaltung. Die ehemals Rheinische Bahnen Dortmund-Süd über Löttringhausen nach Hagen und Löttringhausen bis Langendreer - im Volksmund Rheinischer Esel - sowie die Bergisch-Märkische Bahn Dortmund über Witten nach Hagen - heute S 5 - wurden noch von der Reichsbahn betrieben“, berichtet Cramm.

Probleme mit Diebstählen

„Die Reichsbahn hatte mit Metalldiebstählen zu kämpfen und hatte daher schon früh Personal aus dem laufenden Betrieb herausgezogen und sie als Bahnpolizisten zur Überwachung eingesetzt“, erläutert der Heimatforscher. „Weil beispielsweise am 5. März 1923 an der Strecke Löttringhausen - Langendreer des Rheinischen Esels zweihundert Meter Telefon-Bronzedraht herausgeschnitten worden waren, erhielten Franz Hölling und Anton Figur, die eigentlich Weichenwärter waren, den Auftrag, in der Nacht vom 8. auf den 9. März 1923 die Strecke Annen-Süd bis Löttringhausen zu kontrollieren.

Den Ablauf der tragischen Ereignisse in dieser Nacht hat Tilo Cramm sorgfältig recherchiert und akribisch rekonstruiert. Die beiden Eisenbahner seien abends vom Hauptbahnhof Dortmund nach Annen-Nord gefahren und zum höher gelegenen Bahnhof Annen-Süd der Strecke Löttringhausen - Langendreer aufgestiegen. „Gegen 2.30 Uhr morgens erreichte Hölling, die nördliche Seite der eingleisigen Strecke kontrollierend, die heute abgerissene Brücke über die Hellerstraße. Auf der Westseite der Brücke stand unten ein französischer Wachtposten, der Hölling, angeblich nach viermaligem Anruf, erschoss“, berichtet Cramm.

Und weiter: „Hölling fiel auf die Straße herunter. Seine Leiche wurde in einen Stall des nahen Hofes Frieg gebracht. Sein Kollege, Figur, die südliche Streckenseite kontrollierend, war 120 Meter zurückgeblieben, hörte nur den Schuss - wohl auch wegen hier abgestellter leerer Güterwagen - und flüchtete zum Hof Frieg in die Arme der dort einquartierten französischen Artilleristen. Als Amtmann Müller von Kirchhörde und die Bahnvorgesetzten morgens davon hörten, eilten sie zum Hof Frieg. Nach längeren Diskussionen wurde ihnen Höllings Leiche und nachmittags auch Figur übergeben.“

Protokolle als Dokumente

Wie Cramm herausgefunden hat, flossen die Verhandlungen mit den Militärs und Figur in mehrere Protokolle ein, die mit dem nachfolgenden Schriftwechsel der deutschen Behörden den Akten des Berliner Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz entnommen wurden. „Amtmann Müller verfasste am selben Tage ein Protokoll für den Hörder Landrat Hansmann. Hierin bemerkte er, dass der Wachtposten nicht der auf dem Hof Frieg mit Pferden einquartierten Artillerietruppe angehörte, sondern einer Infanterieeinheit, die im benachbarten Kirchhörde Unterkunft hatte. Die französische Bewachung des Knotenpunktbahnhofs Löttringhausen sollte Sabotageakte verhindern.“

„Der 32-jährige Franz Hölling war gerade Witwer geworden, kinderlos und stand kurz vor neuer Heirat“, ermittelte Cramm. „Der Haushalt wurde ihm von seiner in ärmlichen Verhältnissen lebenden, 71 Jahre alten, verwitweten, fast mittellosen Mutter geführt. Da ihr Sohn sie mit unterhielt, kamen alle sozialen Hilfen zum Tragen, auch eine Entschädigung für die Obduktion im Marienhospital und die Beerdigung. Die Unterhaltsfrage beschäftigte den Regierungspräsidenten in Arnsberg, den Oberpräsidenten in Münster, den Minister des Inneren in Berlin und das Reichsverkehrsministerium. Auf Anweisung zahlte die Reichsbahndirektion Münster der nach Münster verzogenen Mutter 1924 eine jährliche Rente von 294 Reichsmark.“

Hölling war nicht das einzige Todesopfer des Ruhrkampfs in dieser Zeit. Allein in den Monaten Februar und März 1923 gab es 58 deutsche Todesopfer, bilanziert Cramm. Während der gesamten Besetzung des Ruhrgebiets bis im Oktober 1924 seien allein acht Bahnbeamte zu Tode gekommen und 269 verletzt worden.

Bahnwärter Hölling war nicht das einzige Opfer des Ruhrkampfs unter Eisenbahnern. Dieses Protestplakat erinnert an die Erschießung eines anderen Bahnarbeiters.
Bahnwärter Hölling war nicht das einzige Opfer des Ruhrkampfs unter Eisenbahnern. Dieses Protestplakat erinnert an die Erschießung eines anderen Bahnarbeiters. © WWA

Der Fall Hölling hatte allerdings besonderes Aufsehen erregt und heizte die feindliche Stimmung der deutschen Bevölkerung gegenüber den französischen Besatzern weiter an. Seine Erschießung wurde in drastischen Bildern auf Plakaten und Flugblättern zum Thema gemacht, Hölling damit geradezu zu einem Märtyrer für den deutschen Widerstand gemacht - und das weit über die Zeit des Ruhrkampfes und der Weimarer Republik hinaus. So wurde erst viel später die Gedenktafel an der Bahnbrücke in Löttringhausen angebracht - wie die „Dortmunder Zeitung“ im November 1935 berichtete „zum Gedächtnis des von den Franzosen erschossenen Eisenbahners Fr. Hölling“.

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