Viele Reisende rauschen einfach nur durch. Doch wer einige Zeit im Bahnhofsgebäude verbringt, bemerkt vielleicht den kleinen Mikrokosmos, der sich zwischen Schienen und Halle gebildet hat. Hier kennt fast jeder jeden. Wer hier arbeitet, kennt auch den 56-jährigen Bahn-Mitarbeiter, der am 6. März mit einem Messer angegriffen wurde. Hier hat er sich häufig Kaffee geholt, dort Zeitung gelesen, am Ticketschalter hat er gearbeitet. Wie funktioniert der zweitgefährlichste Bahnhof Deutschlands? Wie sicher fühlen sich Mitarbeiter und Reisende? Eine Reportage.
Sicherheitspersonal in doppelter Präsenz
Samstag, 1. März: Um 1 Uhr in der Nacht versucht ein alkoholisierter Mann, seinen Kopf auf den Busen einer fremden Frau zu legen und sie zu küssen.
Es ist ein sonniger Dienstagmittag, der Bahnhofsvorplatz gleicht einem Haufen wuselnder Ameisen. Einige Obdachlose sitzen in der Sonne, unterhalten sich, ihre Becher bitten erfolglos um Spenden. Menschen in Anzügen jagen zu den Gleisen, Rentner und Ehepaare mit Koffern strecken ihre Hälse der großen Anzeigetafel in der Bahnhofsvorhalle entgegen. Die zwölf metallenen Sitze in der Hallenmitte sind dauerbelegt.

Die 19-jährige Emily Kajerleber packt mit ihren Azubi-Kollegen am Haupteingang gerade ihre Sachen zusammen. Als Teil des Projekts „Bahn-Azubis gegen Hass und Gewalt“ haben sie Reisende nach ihrem Sicherheitsgefühl befragt. Ihr Eindruck: Leute, die wenig Zug fahren, fühlen sich sicherer als jene, die täglich unterwegs sind und deshalb häufiger mit den Obdachlosen auf dem Vorplatz in Kontakt kommen.

Kajerleber macht seit September eine Ausbildung als Fachkraft für Schutz und Sicherheit im Dortmunder Hauptbahnhof. In Zweierteams mit gelber Warnweste ziehen sie durch den Bahnhof, um die Hausordnung durchzusetzen: Gewalt, versperrte Rettungswege, Rauchen außerhalb der Raucherbereiche, Hunde ohne Leine, Bettler rufen sie auf den Plan. „Oft helfen wir Menschen und bekommen manchmal ein Lächeln oder ein Danke zurück“, sagt Kajerleber. Aber es geht auch anders: Letzten Freitag hätten zwei minderjährige betrunkene Mädchen sie als „Schlampe“ bezeichnet. Ein Obdachloser, der sich einmischte, wurde von einer Bierflasche getroffen. „Ich frage mich, ob es vielleicht mich erwischt hätte, wenn dieser Obdachlose gerade nicht zufällig dagewesen wäre.“

Eigene Erwartungshaltung entscheidend
Montag, 3. März: Ein 25-Jähriger pöbelt gegen 14.30 Uhr Reisende an. Die Polizei findet bei ihm Pfefferspray. Auch in der Gewahrsamszelle lässt er sich nicht beruhigen, sondern tritt weiter gegen die Tür.
Simone Heuwinkel und ihr Arbeitskollege Björn Huxoll sind gerade auf dem Weg zu einer Tagung nach Stuttgart. Ihr ICE ist verspätet. „Der Bahnhofsvorplatz ist schön groß und aufgelockert, und bei dem schönen Wetter merkt man ja nichts von der Kriminalität“, sagt Heuwinkel. „Das hängt wahrscheinlich auch mit meiner Erwartungshaltung zusammen: Ich erwarte einfach, dass es an einem Hauptbahnhof nicht so schön ist, deswegen fällt mir das auch nicht so auf.“

Polizei kontrolliert anlasslos
Dienstag, 4. März: Ein 36-Jähriger meldet gegen 1.45 Uhr in der Nacht sein Handy als vermisst. Bei dem beschuldigten Obdachlosen finden die Polizisten zwar kein Handy, dafür aber einen Schlagstock, ein Tierabwehrspray und ein Messer. Während Karneval war der Bahnhof eine Waffenverbotszone. Um 11 Uhr gerät ein 20-Jähriger in eine Auseinandersetzung mit einem Zugbegleiter der Eurobahn, weil sein Ticket abgelaufen ist.
Im Jahr 2024 gab es am Dortmunder Hauptbahnhof insgesamt 735 Gewaltdelikte, das sind im Schnitt zwei pro Tag. Mehr gab es nur am Berliner Hauptbahnhof. Vor allem bei Sexual- und Betäubungsmitteldelikten lag Dortmund an erster beziehungsweise zweiter Stelle im Bundesvergleich.
Erst seit Jahresbeginn sind die Sicherheitskräfte der Deutschen Bahn in doppelter Besetzung unterwegs - ausgestattet mit Tierabwehrspray und Schlagstock, eingesetzt wird beides nur selten. Am Sichersten fühlen könne man sich in der Bahnhofshalle, sagt einer von ihnen, denn hier gibt es viele Geschäfte und die Sicherheitskräfte schauen hier besonders häufig vorbei.

Genauso wie die Beamten der Bundespolizei, die im Dreierteam umherstreifen und sich Ausweise zeigen lassen. Ein 32-Jähriger mit Kippe hinterm Ohr zeigt sich erstaunt: „Ich bin noch nie in meinem Leben kontrolliert worden, ich habe keine Ahnung, was die von mir wollten.“ Dortmund gelte als gefährdeter Bahnhof, erklärt einer der Beamten, hier dürften sie anlasslos kontrollieren. Das gelte aber für sehr viele Bahnhöfe im Ruhrgebiet, schiebt er hinterher.
Bei einem jungen, schwarzen Mann mit Daunenjacke haben die Beamten Erfolg. Es gibt Unstimmigkeiten mit seinem Aufenthaltstitel, sie begleiten ihn zur Wache der Bundespolizei in einem Seitenflügel. Vorbei an McDonalds, wo ein Krankenwagen mit eingeschaltetem Blaulicht wartet und es sich drei Obdachlose vor der Tür bequem gemacht haben. „Guten Appetit!“, wünschen sie eintretenden Personen, „Tschüss, schönen Tag noch“ jenen, die den Laden verlassen.
„Würde ungerne abends hier sein“
Mittwoch, 5. März: Ein 28-Jähriger überquert gegen 22.30 Uhr unerlaubt die Gleise, um von Bahnsteig 5 seinen Zug auf Bahnsteig 6 zu bekommen.
Der 66-jährige Peter Leisner aus Paderborn ist einmal die Woche in Dortmund, um eine Freundin zu besuchen. „Ich würde hier sehr ungern um 23 Uhr abends noch in einen Zug steigen“, sagt er. „Komischen Gestalten“ gehe er lieber aus dem Weg, aus den Medienberichten habe er eine gewisse Skepsis gegenüber dem Hauptbahnhof. „Mehr aber auch nicht.“

Messerangriff schockierte viele
Donnerstag, 6. März: Um 12.39 Uhr sticht im Ticketbüro des VRR ein 22-Jähriger auf einen Verkäufer ein, weil dieser zur Verlängerung eines Bustickets ein Passfoto verlangte. Der Mitarbeiter wird lebensgefährlich verletzt, übersteht die Tat aber.
Bei dem an den VRR-Ticketshop angeschlossenen Press&Book-Shop sitzt ein Sicherheitsmann demonstrativ am Eingang auf einem Klappstuhl und beobachtet jeden Kunden argwöhnisch. Ob sein Einsatz eine Reaktion auf den Messerangriff ist? Er druckst herum. Auch die Dame hinter der Kasse deutet nur einen Reißverschluss auf ihrem Mund an.

„Dass es nebenan einen Messerangriff gab, schadet meinem Geschäft“, sagt Aihan Jamil, der direkt neben dem weiterhin geschlossenen VRR-Ticketbüro seit drei Jahren sein HBB Bistro betreibt. Früher habe eine Mitarbeiterin morgens um 4 Uhr alleine die Burger und Baguettes vorbereitet, jetzt wolle sie das nur noch zu zweit machen. „Es gibt hier keinen Tag, wo die Polizei nicht jemanden mitnimmt, der sich geprügelt hat“, sagt er. Die meisten Probleme machten die Obdachlosen auf dem Vorplatz, die vor allem abends Kunden belästigen würden. „Wenn drei Obdachlose vor meiner Tür sitzen, ist das nun mal schlecht für mein Geschäft. Die Polizei kommt leider auch erst, wenn es zu spät ist. Bis ich da jemanden erreiche, bin ich im schlimmsten Fall schon verletzt.“

Mit Obdachlosen wird sich arrangiert
Freitag, 7. März: Die Polizisten greifen gegen 16 Uhr zufällig einen Mann auf, den die Staatsanwaltschaft wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis sucht.
Ein Obdachloser schlurft in Badelatschen und mit einem Becher in der Hand durch die Bahnhofshalle. Zurückhaltend und mit respektvollem Abstand fragt er Leute nach etwas Geld. Reisegästen, die an den Ticketautomaten verzweifeln, versucht er zu helfen. Dann geht er auf die Sicherheitsbediensteten der Bahn zu und zeigt auf zwei Männer, die sich über ein Handy gebeugt in der Bahnhofshalle unterhalten. Angeblich werde da gerade ein Ticket weiterverkauft - auf dem Gelände der Deutschen Bahn ist das verboten. Es könnte aber auch eine betrügerische Masche sein, meint er.
Das Sicherheitspersonal verweist die beiden Männer nach draußen. Der Obdachlose darf bleiben. Sie nennen ihn „unseren Informanten“. Eigentlich ist betteln im Bahnhof verboten, rund 90 Prozent der Szeneangehörigen hätten zudem bereits Hausverbot. Doch sie geben sich pragmatisch: Der Hauptbahnhof habe so viele Eingänge, dass jeder des Hauses verwiesene Obdachlose einfach durch einen anderen Eingang wieder hineinkomme.
„Obdachlosen dürfen einem nicht leidtun“
Samstag, 8. März: Um 11 Uhr fährt ein Obdachloser ohne Ticket von Essen nach Dortmund. Dort kampiert er trotz Platzverweises vor der Polizeiwache und beleidigt grundlos Polizisten. Um 20 Uhr stiehlt ein 29-Jähriger Ware aus einem Drogeriemarkt. Der Ladendetektiv folgt ihm auf Gleis 16 und bemerkt, dass er ein Küchenmesser dabei hat. Als die Polizei ihn ergreift, quetscht er einer Beamtin den Finger. Um 22 Uhr werden Polizisten bei einer Personenkontrolle unvermittelt von einem 34-Jährigen mit einer Bierflasche angegriffen.
Bäckerei-Mitarbeiter Tolga gerät in einen kurzen verbalen Streit mit einem Obdachlosen und schickt ihn vor die Bahnhofstür. „Die wollen oft den Großen markieren, meinen, sie seien die Könige vom Bahnhof“, sagen er und sein Kollege Firat. Obdachlose werden konsequent an die Tafel verwiesen. Wer ihnen aus der Bäckerei einen Kaffee ausgebe, müsse ihn auch selbst bezahlen. „Ich finde es hier sehr sicher“, sagt Firat. „Es macht schon einen Unterschied, dass hier so viel Polizei vor Ort ist.“ „Wenn man am Bahnhof arbeitet, weiß man, worauf man sich einlässt“, sagt auch Filialleiter Mark Jordan. „Wenn Ihnen die Obdachlosen hier leidtun, haben Sie hier nichts verloren.“

Ein Rettungswagen hält mit Blaulicht vor dem Bahnhofseingang. Zwei Sanitäter eilen zu Gleis 11. Auf der Treppe zum Bahnsteig sitzt eine mit mehreren Taschen bepackte junge Frau, in Tränen ausgebrochen. Sie ist die Treppe hinuntergestürzt. Die Sicherheitsmänner stellen sich schützend vor sie und bitten Reisende, die andere Treppe zu nutzen. Dann begleiten die Sanitäter die Frau zum Rettungswagen.
„Möchte niemand etwas ändern?“
Dienstag, 11. März: Auf dem Bahnhofsvorplatz fällt ein Obdachloser auf, weil ein langes Messer aus seiner Hose ragt.
Der 74-jährige Jochen Laplace aus Bielefeld findet den Dortmunder Hauptbahnhof nicht sehr furchteinflößend. „Es ist natürlich ein anderes Gefühl, wenn ich um 22 Uhr an drei Leuten mit Bierflasche vorbeigehe. Aber das gab es auch in meiner Jugend schon, damals waren das Problem eher die Rockerbanden. Wenn ich überall nur Verbrechen sehe, bin ich irgendwann reif für den Psychiater.“

Nachts um 2 ändere sich das Bild, sagen Tatiana Shkitina und Sherkeen Alou aus Dortmund. „Wenn ich nachts vom Feiern aus Münster zurückkomme, sehe ich Leute, die sich spritzen oder irgendwas Komisches kochen“, sagt Sherkeen. „Es sind einfach unangenehme Szenen mit Leuten, die nicht sehr vertrauensvoll aussehen“, ergänzt Tatiana. Sie findet: Der Drogenkonsum am Hauptbahnhof solle einfach verboten werden. „Ich sehe das jeden Tag, möchte sich denn kein Politiker mit diesem Problem beschäftigen?“

Johanniter verteilen warmes Essen
Mittwoch, 12. März: Ein 35-Jähriger wehrt sich, als Polizeibeamte seine Identität überprüfen wollen.
„Es läuft beschissen. Seit Corona zahlen die Leute nur noch mit Karte“, raunt der hilfsbereite Obdachlose mit Badelatschen, während er zum Ausgang schlurft. „Ich gehe jetzt erstmal was essen.“ Vor der Katharinentreppe verteilen die Johanniter kostenlose Mahlzeiten an bedürftige Menschen, rund 40 Leute haben sich eingereiht. „Dienstags gibt‘s immer Milchreis!“
Mit der Dunkelheit steigt die Aggressivität
Donnerstag, 13. März: Eine 18-jährige, alkoholisierte Frau wirft Glasflaschen auf zwei Bahnhofspassanten. Auf der Flucht vor der Polizei rennt sie auf die Straße, mehrere Autos müssen eine Vollbremsung einlegen.
Es ist längst dunkel geworden. Ein Schwarzer läuft laut schreiend durch die Bahnhofshalle. Vor der Eingangstür steht ein herrenloser Adidas-Rucksack. Eine schwarze Frau beginnt, in der Bahnhofshalle zu Handy-Musik zu tanzen. Ein böser Blick der Sicherheitskräfte genügt. Abspielen von Tonträgern ist verboten.

Täter schnell wieder auf freiem Fuß
Samstag, 15. März: Gegen 14.30 Uhr gerät ein Mann in Streit mit einer Gruppe um einen 12-jährigen Syrer und stößt ihn zu Boden. Um kurz nach Mitternacht fasst ein 28-Jähriger einer jungen Frau erst um die Hüfte und dann an ihr Gesäß.
Vor dem Bahnhofs-Haupteingang sammeln sich plötzlich auffällig viele Polizisten und Sicherheitsbedienstete. Jemand fordert Flatterband an.

Was würde helfen, um die Sicherheitslage am Dortmunder Hauptbahnhof in den Griff zu bekommen? Der Polizeigewerkschafter Thomas Mischke vom Bund Deutscher Kriminalbeamter fordert eine unmittelbarere Strafverfolgung. „Wenn ich immer die gleichen Trick- und Gepäckdiebe erwische, sie aber entweder gar nicht dem Haftrichter vorgeführt oder danach wieder freigelassen werden, gleicht das einer Aufforderung, einfach weiterzumachen. Die Lage an unseren Bahnhöfen wird sich so nicht groß verändern“, sagt er.
Er verweist zudem auf die Broken-Window-Theorie: Wer zulässt, dass eine Gegend verwahrlost, lockt damit Straftäter an. Wer Bereiche sauberhält oder sie zurückerobert, wirkt automatisch der Kriminalität entgegen. Die Behörden müssten besser zusammenarbeiten, um Sofortmaßnahmen einleiten zu können, fordert er.

Dienstag, 18. März: Um 20 Uhr sperrt die Polizei die Bahnhofshalle großräumig ab. Die Reisenden müssen den Umweg über die U-Bahn-Station nehmen. Der herrenlose Adidas-Rucksack wurde mit der Zeit zu verdächtig. Der Obdachlose in Badeschlappen ärgert sich, nun kein Geld mehr zu bekommen. Ein Entschärfer muss kommen, um den Rucksack zu röntgen. Denn sicher ist sicher - gerade am Dortmunder Hauptbahnhof.
Hinweis der Redaktion: Dieser Artikel erschien ursprünglich am 20. März 2025.