Für viele Mieter und Mieterinnen ist das Wohnen in der Tremonia-Siedlung im Dortmunder Westen so etwas wie ein Lotto-Gewinn. Viele leben seit Kindesbeinen hier, mit ihren Eltern und teilweise auch Großeltern. Wegziehen wollen die wenigsten, Veränderungen möchte niemand.
„Ich liebe die Menschen hier“, sagt Rolf Baranowski. Die Nachbarschaft in der Dorstfelder Siedlung sei einzigartig und über Jahrzehnte gewachsen. Nirgendwo anders würde er noch einmal eine solche Hilfsbereitschaft und Herzlichkeit finden.

„Man wird hier aufgefangen“, sagt er und wischt sich eine Träne aus dem Gesicht. Vor wenigen Wochen ist der 55-Jährige Witwer geworden. Kaum hat er es ausgesprochen, liegen sich zwei Männer weinend in den Armen. Denn auch Otto Twer (84) trauert um seine gerade erst verstorbene Frau.
Nicht nur die beiden Nachbarn in der Tremonia-Siedlung in Dortmund-Dorstfeld sind in großer Sorge, dass sie alle über kurz oder lang auseinandergerissen werden. „Wo soll ich denn hin?“, fragt Otto Twer und zuckt resigniert mit den Schultern. Seit 1942 wohnt er „Im Wiesengrund“, zuerst mit seinen Eltern, später mit seiner Ehefrau.
Vivawest plant Hausverkäufe
Es sind die geplanten und angekündigten Hausverkäufe des Wohnungsunternehmens Vivawest, die an den Nerven vieler Mieterinnen und Mieter zehren. Zwar sollen für die rund 100 Jahre alten Immobilien zuerst die Mieter ein Angebot erhalten, doch dieses Versprechen beruhigt die wenigstens. „Ich bin 84 Jahre alt, ich bekomme doch gar keinen Kredit mehr“, sagt Otto Twer.
Auch andere können sich einen Hauskauf nicht leisten – oder wollen es nicht: „Hier stehen dauernd die Keller unter Wasser, dafür findet man keine Versicherung“, sagt Rolf Baranowski. 2008 sei die ganze Siedlung ein See gewesen. „So was kann man nicht kaufen.“

Auch Antje (59) und Rolf Adam (61), die seit 30 Jahren in der Straße „Emscherpfad“ wohnen, wollen sich keine Immobilie mehr ans Bein binden und ein Darlehen abbezahlen. „Wir wollen die nächsten zehn Jahre lieber reisen“, sagt der 61-Jährige.
Nun ist die Befürchtung bei allen, die nicht kaufen können oder wollen, groß, dass externe Interessenten zuschlagen werden und sie als Mieter irgendwann aus ihrem geliebten Viertel ausziehen müssen. „Das wäre mein Untergang“, sagt Vanessa Scholz (35). Die junge Mutter hat bislang nie woanders als in der Tremonia-Siedlung gewohnt.
Vivawest-Mieter haben Angst
Rund 40 aufgebrachte Mieterinnen und Mieter haben sich Ende August 2023 mit ihren Ängsten und Sorgen an unsere Redaktion gewandt. Ihre Schicksale ähneln sich genauso wie ihre Wünsche: Alle wollen bleiben, alles soll bleiben, wie es ist.
Doch stattdessen schafft ihr Vermieter Fakten und sorgt für weitere Verunsicherungen. Aktuell werden nämlich im Zuge der Vertriebsvorbereitung die Grundstücke und Gärten in der Siedlung neu vermessen. Bislang stehen die Häuser auf mehreren großen, zusammenhängenden Vivawest-Arealen. Im Zuge der Neuvermessung soll jedem Gebäude ein eigenes Grundstück zugewiesen werden.

Die Konsequenzen sind für einige der Bewohner verheerend: Sie müssen ihre selbst gebauten und finanzierten Terrassen, Gartenhütten und Zäune versetzen oder ganz entfernen. Und das innerhalb von nur wenigen Wochen. Angesichts des Handwerkermangels für viele ein unlösbares Problem.
Am härtesten scheint es Otto Twer getroffen zu haben. Für ihn verändern sich gleich drei Grundstücksgrenzen. Zwei Zäune müssen versetzt werden. Ein Teil der Terrasse soll für einen neuen Wirtschaftsweg weichen. „Wie soll ich das in meinem Alter schaffen?“, fragt er.
Vivawest-Mieter verlieren Bäume
Nicht viel besser ergeht es Michaela Gottschalk (42) und Jaqueline Grenz (40). Die Frauen haben mit viel Liebe und Aufwand ihren Garten gestaltet. Dazu gehören ein Gartenhaus mit Terrasse und Lounge, ein Pool, ein Klettergerüst, ein Trampolin, Pflanzen und Obstbäume.
Sie müssen zwei Meter entlang der linken Grundstücksseite abgeben und verlieren dadurch die Bäume. Für den Verlust von 40 Quadratmetern sollen sie im Gegenzug eine Fläche von 3,69 Quadratmetern erhalten. „Das ist doch alles lächerlich“, sagt Michaela Gottschalk und zieht genervt an ihrer Zigarette.
Den Obstbaum-Streifen wiederum sollen die Garten-Nachbarn Antje und Rolf Adam erhalten, während sie auf der linken Gartenseite drei Meter entlang des Grundstücks abgeben sollen. Dafür müssen sie ihren Pool und ihre Gartenhütte umsetzen. „Deshalb haben wir für die Bäume keine Verwendung“, so Rolf Adam.
Vanessa Scholz hat ihre Gartenhütte erst 2022 aufgebaut – wie sie sagt, nach Rücksprache mit dem Vermieter. „Das hätte ich ja nicht gemacht, wenn ich gewusst hätte, was passieren soll.“ Nun habe sie erfahren, dass ein Teil des Häuschens Platz für einen neuen Wirtschaftsweg machen muss.

Tim Schnell (27), Bewohner einer Erdgeschosswohnung, gehört auch zu den großen Verlierern: Er wird wohl seinen gemieteten Garten und seine Terrasse samt Gartenhaus, für die er rund 5000 Euro bezahlt hat, verlieren. Denn die neue Grundstücksgrenze führt mittig durch den Garten. Die beiden Gartenhälften werden anderen Häusern zugeordnet.
Einige Mieterinnen und Mieter fragen sich nun, ob es überhaupt Sinn macht, die neu vermessenen Gärten wieder auszustatten und dafür Geld zu investieren. „Wir haben ja keine Sicherheit, dass wir nach den Verkäufen bleiben dürfen“, so Rolf Adam.
Mieterrechte bleiben gewahrt
In ihrer Stellungnahme an unsere Redaktion betont Vivawest, dass sämtliche Mieterrechte auch im unwahrscheinlichen Falle eines Verkaufs an einen externen Interessenten gewahrt blieben. „Diese Rechte umfassen beispielsweise Kündigungsfristen und weitere gesetzlich oder im Mietvertrag festgelegte Rechte“, schreibt Vivawest-Sprecher Gregor Boldt.
Auf Nachfrage ergänzt er: „Eine Eigenbedarfskündigung können wir im Einzelfall insofern nicht ausschließen, als dass die Folgenutzung nach dem Verkauf nicht bei Vivawest, sondern beim Käufer beziehungsweise neuen Eigentümer liegt.“ Erfahrungsgemäß kämen Eigenbedarfskündigungen in der Praxis aber nur sehr selten vor und seien nur in engen, gesetzlich klar geregelten Grenzen möglich.

Darüber hinaus lasse Vivawest ihre Mieter bei den nötigen Gartenarbeiten nicht im Stich, so Boldt: Für den Rückbau von Zäunen und Gartenlauben wolle man Entsorgungscontainer zur Verfügung stellen und dafür die Kosten tragen. Für die Errichtung der neuen Zaunanlagen habe man den Mietern eine Materialkostenerstattung zugesagt.
Konkrete Angaben zur finanziellen Hilfe macht Boldt nicht: „Die Grundstücke sind teilweise sehr unterschiedlich bebaut. Zudem wurden die Gegenstände teilweise ohne Genehmigung aufgestellt.“ Entsprechend gebe es für die Zuwendung keine festgelegten Grenzen und keine allgemeingültige Regelung. Darüber hinaus biete Vivawest bei Bedarf – etwa bei sozialen Härtefällen – weitere Unterstützung an, sofern die Mieter sich melden würden.

Das geplante Vorgehen habe man den Mietern zuletzt im Juli schriftlich mitgeteilt. „Im Nachgang haben wir dazu viele persönliche Gespräche geführt, die fast ausschließlich sehr positiv verlaufen sind“, so Boldt. Erstmalig seien die Mieter im Jahr 2021 über die Pläne informiert worden. 2024 soll mit dem Verkauf der Häuser begonnen werden.
Prinzipiell geht es hier laut Vivawest um das „Modell einer sozialverträglichen Eigentumsbildung“ für die ehemalige Bergleute, indem sie das lange gemietete Haus nun kaufen können, meint Boldt. Generell sei man zuversichtlich, mit allen gute und einvernehmliche Lösungen finden zu können. Die Dorstfelder Mieter indes wünschen sich zeitnah eine Mieterversammlung, bei der sie alle Fragen, die ihnen auf der Seele brennen, an Vivawest stellen können.
Hinweis der Redaktion: Dieser Artikel erschien ursprünglich am 29. August 2023.
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