Todestag von Mouhamed Dramé jährt sich zum 2. Mal Was bis Prozessbeginn alles passierte

Ein Jahr nach dem Tod von Mouhamed Dramé: Die Chronologie
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Für manche Menschen war schnell klar: „Der muss auf die Polizisten losgegangen sein.“ Andere meinten: „Das war ein rassistisch motivierter Mord.“ Die Ermittlungsbehörden haben sich hingegen die Zeit genommen, um monatelang alle Fakten zu sammeln.

Vieles ist nach und nach rund um den Fall bekannt geworden - vor allem in den ersten Monaten danach. Mittlerweile läuft der Prozess. Zum ersten Jahrestag des eskalierten Polizei-Einsatzes in der Dortmunder Nordstadt ist im Sommer diese Chronologie entstanden, die die Geschehnisse bis Prozessbeginn zusammenfasst.

Die Vorgeschichte:

Mouhamed Dramé ist im westafrikanischen Senegal aufgewachsen. Mit 14 Jahren soll er losgezogen sein, um nach Deutschland auszuwandern - im Sommer 2022 war er 16 Jahre alt. Am 30. April wurde er in Rheinland-Pfalz registriert und zog am 1. August nach Dortmund, weil er großer BVB-Fan gewesen sei.

Der Jugendliche kam als unbegleiteter minderjähriger Flüchtling in eine Wohngruppe der Jugendhilfe St. Elisabeth an der Holsteiner Straße in der Nordstadt.

7. August:

In der Nacht zum 7. August betritt Mouhamed die Polizeiwache Dortmund-Nord. „Nonverbal durch Gestik“ habe er Suizidabsichten geäußert, heißt es. In Absprache mit dem Jugendamt wird er in die Kinder- und Jugendpsychiatrie gebracht. Mithilfe eines Französisch-Dolmetschers wird er dort untersucht, Mouhamed dementiert die Suizidabsicht, sagt aber, zurück in den Senegal zu wollen. Am Abend des 7. August bringt ihn ein Taxi zurück in die Wohneinrichtung.

8. August:

Nachmittags gegen 16.20 Uhr nimmt sich der 16-Jährige ein großes Messer und zieht sich damit allein in eine Ecke des Hinterhofs der Wohneinrichtung zurück. Die Angestellten können ihn nicht überzeugen, die Waffe wegzulegen und wählen den Notruf.

Durch diese Einfahrt erreicht man von der Holsteiner Straße den Innenhof, in dem sich der Einsatz abgespielt hat.
Durch diese Einfahrt erreicht man von der Holsteiner Straße den Innenhof, in dem sich der Einsatz abgespielt hat. © Lukas Wittland

Nachdem auch die Ansprache der Polizei keinen Effekt zeigt, ordnet der Dienstgruppenleiter an, Pfefferspray auf den Jugendlichen zu sprühen. Offenbar erhofft er sich, dass der Jugendliche durch die Schmerzen das Messer fallen lässt. Stattdessen steht Mouhamed aber auf und bewegt sich weg von der Mauerecke in Richtung der Polizisten.

Eine Beamtin und ein Beamter lösen ihre Elektro-Taser aus. 0,7 Sekunden nach dem zweiten Taser-Einsatz fällt der erste Schuss aus der Maschinenpistole eines 29-Jährigen. Sechsmal soll er abgedrückt haben, vier Kugeln treffen Mouhamed in Kopf, Bauch, Arm und Schulter. Um 18.02 Uhr wird sein Tod im Krankenhaus festgestellt.

9. August:

Eine wütende Menge trifft sich gegenüber der Polizeiwache Nord zu einer ersten Demonstration. Rund 200 Menschen sind gekommen, die Polizei bildet eine Kette, damit sie nicht direkt zur Wache ziehen können. In den folgenden Tagen gibt es weitere Versammlungen mit viel Kritik an der Polizei.

10. August:

NRW-Innenminister Herbert Reul schildert öffentlich den Einsatzablauf mit Pfefferspray, Tasern und schließlich der Maschinenpistole. „Derjenige ist immer aufgeregter, ich sag mal angespannter, aggressiver auf die Polizisten zugerannt“, sagt Reul.

12. August:

In der Dortmunder Abu Bakr Moschee findet eine Gedenkveranstaltung für Mouhamed Dramé statt. „Wir verbieten uns jede Schuldzuweisung“, sagt Ahmad Aweimer vom Rat der muslimischen Gemeinden in Dortmund.

Der Sarg mit dem Leichnam während einer Trauerfeier in Dortmund.
Der Sarg mit dem Leichnam während einer Trauerfeier in Dortmund. © Joscha F. Westerkamp

15. August:

Es wird bekannt, dass alle Bodycams der eingesetzten Polizeikräfte ausgeschaltet waren. Die Nutzung ist aber auch nicht Pflicht. Fakt ist: Es existieren keine Videoaufnahmen der Konfrontation.

Eine Woche nach seinem Tod soll Mouhameds Körper in Dortmund beerdigt werden. Die Beisetzung wird aber am selben Morgen kurzfristig abgesagt. Stattdessen wird der Leichnam drei Tage später in den Senegal gebracht.

23. August:

Der Fall Mouhamed steht zum ersten Mal auf der Tagesordnung des NRW-Landtags. Thematisiert wird unter anderem, warum eine Maschinenpistole zum Einsatz kam: Damit könne man auf größere Distanz genauer zielen, heißt es von der NRW-Polizei. Es sei aber kein Dauerfeuer zugelassen.

Innenminister Reul sagt, dass zwölf Polizeikräfte vor Ort gewesen seien. Und er äußert, offen zu sein für eine Änderung der Praxis, dass die Polizeibehörden Recklinghausen und Dortmund gegeneinander ermitteln, wenn Einsatzkräfte verdächtigt werden.


26. August:

Die Polizei Dortmund startet das Gesprächsformat „Talk with a cop“. Man wolle raus zu den Leuten gehen, um in den Dialog zu treten, heißt es. An belebten Orten der Nordstadt stehen Polizisten für Gespräche bereit.

1. September:

Nachdem zuerst nur der MP-Schütze als Verdächtiger bekannt war, teilt das Innenministerium mit, dass auch gegen vier weitere Einsatzkräfte ermittelt wird. Es handelt sich um den Einsatzleiter sowie die Personen, die das Pfefferspray und die Elektro-Taser benutzt haben. Die tödlichen Schüsse seien aus etwa zwei bis vier Metern Entfernung abgegeben worden.

Die Polizei Dortmund informiert, dass ein Beamter (der MP-Schütze) vom Dienst suspendiert sei. Die vier anderen Verdächtigen seien in andere Tätigkeitsbereiche versetzt.

2. September:

Oberstaatsanwalt Carsten Dombert berichtet, dass der Wohngruppen-Betreuer den Notruf bis zur Schussabgabe gehalten hat. Das Telefonat ist aufgezeichnet worden, sodass man den Ablauf analysieren wolle.

In einem schriftlichen Bericht heißt es, dass ein Totschlag-Verdacht geprüft werde. In diesem Fall habe ein Täter den Vorsatz, das Opfer zu töten, erklärt Dombert. Der Ermittler sagt zum Beginn des Einsatzes: „Die Lage war statisch. Der Jugendliche saß da und tat nichts.“

Oberstaatsanwalt Carsten Dombert
Oberstaatsanwalt Carsten Dombert © Kevin Kindel

8. September:

In einer Sondersitzung des Landtags sagt Innenminister Reul, bei ihm „drängt sich der Eindruck auf“, dass nicht alles beim Einsatz „einwandfrei“ gelaufen sei. Er stelle sich selbst die Frage, ob schnelles Handeln in der gegebenen Situation nötig war. Das zu bewerten, sei aber Sache der Staatsanwaltschaft. Unter anderem wolle das Ministerium prüfen, ob Bodycams zukünftig bei einem Taser-Einsatz automatisch angeschaltet werden.

14. September:

In einem Dokument der Landesregierung ist zu lesen, dass das eingesetzte Pfefferspray bereits im April abgelaufen war. Im Rechtsausschuss des Landtags wird außerdem das Einsatzprotokoll der Polizei mit genauen Zeitangaben veröffentlicht.

20. September:

Das Personal der Psychiatrie äußert, dass sich Mouhamed bei der Untersuchung am Tag vor dem tödlichen Einsatz „klar“ von Selbstmordgedanken distanziert habe. Es habe keine Anzeichen für Eigen- oder Fremdgefährdung gegeben.

23. September:

Der Rat der Stadt Dortmund diskutiert den Fall erstmals. Beschlossen wurde unter anderem, „rassistische Tendenzen“ innerhalb der Polizei untersuchen zu lassen. Eine unabhängige Stelle solle die „polizeilichen Taktiken und Verhalten in solchen Situationen“ untersuchen und „die Betreuung von Menschen in psychischen Ausnahmesituationen“ verbessern.

Die festen Zuständigkeiten der Polizeibehörden bei Ermittlungen gegen andere Behörden sollen „aufgelöst“ werden. Bei Einsätzen in der Nordstadt solle die Polizei stärker „darauf achten, wie sie weniger bedrohlich wirken können“.

9. November:

Die Analyse der Tonaufnahme ist abgeschlossen. Der erste Schuss aus der Maschinenpistole fiel nur 0,717 Sekunden nach einem „wahrnehmbaren Tasergeräusch“.

Im November waren 2000 Menschen zu einer Demonstration in Dortmund unterwegs.
Im November waren 2000 Menschen zu einer Demonstration in Dortmund unterwegs. © Robin Albers

19. November:

Mehr als drei Monate nach Mouhameds Tod demonstrieren rund 2000 Menschen in Dortmund. Der Titel des Aufzuges lautet „Es gibt 1000 Mouhameds - Sie verdienen Gerechtigkeit!“

9. Februar 2023:

Die Staatsanwaltschaft erhebt Anklage gegen alle fünf Verdächtigen. Diejenigen mit Reizgas und Tasern werden der „gefährlichen Körperverletzung im Amt“ beschuldigt und der Einsatzleiter wegen der Anstiftung dazu. Der Mann, der Mouhamed mit der Maschinenpistole erschossen hat, wird wegen Totschlags angeschuldigt.

23. März 2023:

Innenminister Reul stellt Maßnahmen vor, die nach dem Dortmunder Fall für ganz NRW gelten. Für Bodycams kommt eine Trage- aber keine Anschaltpflicht. Die Bedeutung von Kommunikation wird stärker betont, Listen von mehrsprachigen Einsatzkräften werden erstellt und das jährliche Polizei-Einsatztraining ausgeweitet.

8. August 2023:

Ein halbes Jahr nach der Anklageerhebung steht noch nicht fest, wann der Prozess beginnt. Weil die Verdächtigen nicht in Untersuchungshaft sitzen, haben andere Verfahren Vorrang. Man hoffe auf einen Beginn noch im Jahr 2023, heißt es vom Landgericht.

30. November 2023

Der Termin für den Prozessbeginn wird bekannt: Am 19. Dezember (Dienstag) wird das Verfahren gegen fünf Polizeibeamtinnen und Beamte eröffnet. Die Anklagepunkte lauten Totschlag und gefährliche Körperverletzung im Amt sowie Anstiftung dazu.

Alle weiteren Entwicklungen finden Sie auf unserer Übersichtsseite zum Tod des 16-jährigen Mouhamed Dramé.

Hinweis der Redaktion: Dieser Text erschien erstmals am 8. August 2023. Wir haben ihn um aktuelle Entwicklungen ergänzt und zum zweiten Todestag von Mouhamed Dramé erneut veröffentlicht.

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