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Stasi-Akten zum Blättern: Wie Agenten einen Dortmunder Manager-Sohn in die Falle lockten
Stasi in Dortmund
1984 erhält IM „Sebastian“ den Auftrag, einen jungen Dortmunder als Agenten zu werben. An dem klugen, ahnungslosen Industriellen-Spross ist die Stasi aus einem bestimmten Grund interessiert.
Dies ist eine wahre Spionage-Geschichte aus dem Kalten Krieg. Sie spielt im damals geteilten Deutschland - und in eine Dortmunder Familie hinein zu einer Zeit, als noch Stahl und Bier die Wirtschaft der Stadt beherrschten. Sie zeigt, wie die DDR-Staatssicherheit getrickst hat, um ahnungslose Bürger (West) in ihre Netze zu ziehen.
Der Geschäftsfreund ist ein Spion
Sie beginnt vor fast 40 Jahren. Der Vater arbeitet als Vorstandsmitglied der Tochterfirma eines großen Ruhrgebiet-Konzerns. Der Sohn wohnt noch zu Hause in 4600 Dortmund 50. Das kann nach dem damaligen Postleitsystem in Uni-Nähe oder in Barop gewesen sein. Er hat Jura und Volkswirtschaft in Bochum studiert, plant die Doktorarbeit und braucht Informationen aus Beständen der Staatsarchive der DDR in Potsdam und Merseburg. Der Vater will die Kontakte nutzen, die er für seinen Betrieb nach „drüben“ pflegt. Er bittet im März 1983 einen seiner DDR-Geschäftsfreunde um Hilfe. Was der Dortmunder Manager nicht weiß: Der Geschäftsfreund arbeitet für das Ministerium für Staatssicherheit (MfS). Sie nennen ihn IM „Bornheim“
Die DDR unter großem Kostendruck
Die Weltlage ist angespannt. Washington und Moskau wollen ihre Atomwaffen-Arsenale modernisieren. Die „Nachrüstung“ belastet das Klima. Die Sowjets haben einen zivilen koreanischen Jumbo-Jet abgeschossen. Das deutsch-deutsche Verhältnis entwickelt sich friedlicher. 1983 und 1984 genehmigt die schwarz-gelbe Regierung in Bonn zwei Milliardenkredite an Ost-Berlin. Erich Honecker, der DDR-Staatsratsvorsitzende, sitzt auf eine klammen Staatskasse und dankt die Hilfe mit erleichterten Familienzusammenführungen.
Recherchen im DDR-Archiv
Seine Stasi aber guckt und horcht wie zuvor, und das Netz wird ausgeworfen. „Bornheim“ hat die private Anfrage des Vaters aus Dortmund seinen Oberen gemeldet. In der Bezirksverwaltung Leipzig wittern sie eine Gelegenheit und legen eine Akte zur Operativen Personenkontrolle OPK XV/93/85 an. Der ahnungslose Sohn des Managers, der 1984 offiziell um den Archiv-Termin in der DDR bittet, wird darin zur „Zielperson“ mit dem Decknamen „Vogel“. Für die DDR in diesen Jahren hat Vorrang, die westdeutsche Wirtschaft auszukundschaften. „Vogel“ reizt sie, weil er später in eine „operativ interessante Spitzenfunktion aufsteigen könnte“. Sie wollen ihn langfristig als IM“ heuern. Als Inoffiziellen Mitarbeiter.
Stasi-Unterlagenbehörde schwärzt die Namen
Mindestens 6 000 solcher DDR-Agenten tummelten sich in der alten Bundesrepublik. 1500 waren es noch kurz vor dem Mauerfall, viele von ihnen Westbürger. Wie wurden sie geködert? Wir nennen hier keine Klarnamen, wir kennen diese auch nicht. Auch den Konzern nicht, für den der Vater arbeitet. Die mehr als 100 Seiten zu „Vogel“, die uns vorliegen, sind durch die Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes (BstU) an Stellen geschwärzt, die eine Identifizierung von Personen möglich machen könnten.
Was die Akte klar macht: Wie behutsam sich die Staatssicherheit an ihre Opfer heranpirschte. Damit „Vogel“ in die Falle geht, sei „kein vordergründiges Interesse an Informationsaustausch“ zu artikulieren, heißt es in einer handschriftlichen Weisung. „Im Mittelpunkt steht die Herstellung des Freundschaftsverhältnisses“.
„Vogel“ ist jung. Mitte 20. IM „Bornheim“, der Geschäftspartner des Vaters, sucht einen Lockvogel. IM „Sebastian“. Er ist 29 Jahre alt, verheiratet, Wirtschaftshistoriker. Das passt gut zum Sohn des westlichen Managers. Zitat Stasi-Akte: „Aufgrund der Tätigkeit an der gleichen Sektion ergeben sich günstige Möglichkeiten zum Anschleusen des IM ‚Sebastian‘ durch ‚Bornheim‘“. Zum ersten Kontakt zwischen beiden kommt es im Herbst 1984. „Vogel“ besucht die Staatsarchive. In der Wohnung eines Leipziger Professors treffen sie sich. „Sebastian“ soll „‘Vogel‘ wissenschaftlich, organisatorisch sowie hinsichtlich der Befriedigung seiner Freizeitinteressen betreuen“. Politisch soll er sich offen geben.
Die Stasi legt ein Personen-Dossier an
Wie tickt „Vogel“ aus Dortmund? Bescheiden, bürgerlich, intelligent. Selbstbewusst, gut gekleidet, diszipliniert. „Trotz mehrerer Gelegenheiten trank er nie mehr Alkohol als er vertrug“. Die Staatssicherheit beleuchtet die Persönlichkeit eines Zielobjekts gerne per Psychogramm. Wie benimmt es sich? Wie ist es angezogen? Wie kommuniziert das Ziel? Vor allem: Kein Feind, stellen die Stasi-Leute fest, nachdem „Sebastian“während „Vogels“ Archivarbeit in der DDR vom 8. Oktober bis zum 4. November 1984 „ein Freundschaftsverhältnis zur Zielperson“ aufbauen können. Die Basis für ein Personen-Dossier.
„Vogel“ steht der DDR unvoreingenommen gegenüber
„Vogel“ muss auf sie ungefährlich gewirkt haben. Bis zum 15. Lebensjahr aufgewachsen in einer Bochumer Arbeitersiedlung war er von einer „sozialdemokratisch orientierten Traditionslinie der Arbeiterbewegung“ bestimmt. „Vogel“ ist SPD-Mitglied und wird dort später zeitweise eine Funktion haben. Er ist in der Gewerkschaft aktiv und hat eine „positive Grundhaltung zur Arbeiterklasse der BRD“. Vor allem: Der Westdeutsche steht der DDR „unvoreingenommen“ gegenüber.
„Im Mittelpunkt steht die Herstellung des Freundschaftsverhältnisses“ Aus der Stasi-Akte
Leipzig ist in diesen Jahren ein Magnet. Die Messe lockt bis zu 600.000 Besucher in die sächsische Stadt. 100.000 davon kommen aus der Bundesrepublik. Für die Revier-Industrie ist es Ehrensache, dabei zu sein. So geraten die Messe-Tage jedes Mal zum deutsch-deutschen Familientreffen. Besucher kommen in Privatquartieren unter. Ein Festmahl für die Staatssicherheit. „Bornheim“und „Sebastian“ nutzen das ein Jahr nach dem Erstkontakt. Sie betreuen „Vogel“, der den Vater begleitet. Der junge Gast aus Dortmund schläft, ohne es zu ahnen, in der KW „Atelier“, einer Stasi-eigenen, konspirativen Wohnung. Hier ein Kaffeetrinken, dort ein Plausch und Tourismus mit Gelegenheiten zu gutem Essen. Ausflüge nach Weißensee und zum Kulkwitzer See sind auf dem Programm. Manche Nacht wird spät.
„Sofort war wieder ein vertrauliches und z.T. herzliches Verhältnis“, schreibt „Sebastian“. „Besonders gut konnten wir miteinander über fachliche (historische) Probleme diskutieren“. Privates wird ausgetauscht. Er erfährt, dass „Vogel“ eine geflüchtete DDR-Bürgerin zur Freundin hatte. Sie habe ihn wohl verlassen. Doch „Vogels“ berufliche Pläne herauszuhören steht ganz oben auf der To-Do-Liste. Anders als der „technisch“ausgerichtete Vater will der Sohn später eher für Organisationen oder Stiftungen, Gewerkschaften oder Archive arbeiten.
„Raubpolitik der US-Besatzer“
„Sebastian“ nutzt „Vogels“ Offenheit. Dass dessen Vater verärgert ist, wenn ihn nach DDR-Reisen verstärkt westdeutsche Verfassungsschützer belästigen, wird notiert. Die Vorteile von Sozialismus oder Marktwirtschaft sind Gesprächsthema, Innereien der SPD natürlich („Vogel“ ist für Hans-Jochen Vogel als SPD-Chef), man spricht über Ost- und Westmächte: „Positive Ergebnisse brachten Ausführungen zur Raub-Politik der US-Besatzer 1945“, erinnert sich später „Sebastian“, der „Vogel“ deutlich gemacht haben will, dass in der DDR „die Sowjetunion nicht alles befiehlt“. Der West-Freund distanziert sich seinerseits von der Politik des US-Präsidenten Ronald Reagan und von Frankreich und gibt sich gelegentlich national gesinnt. Er spricht von der DDR als einem „Juwel“ und redet der Unabhängigkeit der deutschen Staaten von beiden Supermächten das Wort. Ein „hoher Pathos zum deutschen Volk“ bestehe bei dem Dortmunder, stellt „Sebastian“ fest. In Klammern dahinter: „Preußentum“.
Der anfängliche Anti-Amerikanismus lässt nach
Es ist 1988. „Vogel“ hat mehrfach die DDR besucht, dort mit aktueller Freundin und „Sebastian“ auch eine „Burgenrundreise“ gemacht. „Unerhört gefallen“ haben ihm die Aufenthalte, berichtet der IM seinen Chefs. Doch mit der Zeit bröckeln manche Gemeinsamkeiten. „Vogel“ zeigt jetzt andere Tendenzen als die Staatssicherheit erhofft. Er werde pragmatischer, glaubt „Sebastian“. Der anfängliche Anti-Amerikanismus lasse nach. Die Nähe zur Demokratie westlicher Prägung stabilisiere sich. Die Vorstellung des Dortmunders vom Beruf wechseln – weg von einer Arbeit bei Stiftungen oder Gewerkschaften, hin zum Job („Abteilungsleiter“) in der Wirtschaft mit besseren Verdienst.
Auch die Stasi und ihr IM halten sich vorsichtig zurück. Der freundschaftliche Briefaustausch zwischen den Besuchen bleibt Ausnahme. Und der dumme Zufall lässt einen Studienaufenthalt des Werbers im Westen verunglücken, den „Vogels“ Familie organisiert hat. Ausgerechnet Zielperson „Vogel“ macht Urlaub in der Türkei, während „Sebastian“ in den Räumen der Kölner Uni am finanzökonomischen Institut arbeiten darf. „Vogels“ Vater ersetzt den Sohn als Gastgeber. Sie fahren durch das Sauerland, der Gast aus Leipzig lernt Dortmund zu Fuß kennen und dort mehrere „Werke“. Erst in den letzten Tagen stößt „Vogel“ dazu. Man besucht noch Bonn und ein Winzerfest. Der junge Mann aus dem Ruhrgebiet ist freundlich wie immer. Aber Privates? Erscheint kaum noch in den Akten.
Das Verhältnis bröselt
Ahnt „Vogel“, dass er nicht nur Freund, sondern Beute ist? Der Verdacht taucht im dicken Unterlagenpaket XV/93/85 nicht auf. Aber „Sebastian“ notiert erstmals Schwierigkeiten, bestimmte Themen anzuschneiden: „Das Informationsbedürfnis seitens ‚Vogels‘ zu den Prozessen der DDR war gering. Wie bereits in der Vergangenheit sehr passiv“. Anderes geht schief. „Sebastian“ will Unterlagen über alte Festungsbauten - „Vogel“ besorgt sie nicht wie versprochen. Ein gemeinsamer Aufenthalt an der DDR-Ostseeküste, geplant für 1989, kommt nicht zustande.
„Vogel“ will Manager in einem Konzern werden
Was beide nicht wissen: 1989 wird das Jahr, in dem die Weltgeschichte die Pläne der DDR-Staatssicherheit mit dem jungen Mann aus Dortmund durchkreuzen wird. In Polen regiert inzwischen die oppositionelle „Solidarnosc“ mit. Über Ungarn verlassen DDR-Bürger in Massen ihre Heimat. In Leipzig gibt es die ersten Montags-Demonstrationen. Der Dortmunder „Vogel“ ist inzwischen irgendwo im Westen Abteilungsleiter. Nach wie vor ist seine „Perspektive Management in einem Konzern“ verlockend für die Staatssicherheit. Aber ist sie noch realisierbar?
Das Ende einer deutsch-deutschen „Freundschaft“
„Sebastians“ Chefs machen Kassensturz: Die Zielsetzung Einleitung des Werbeprozesses unter Nutzung des wissenschaftlichen Hintergrunds des IM ‚Sebastian‘ wurde nicht erfüllt“.„Vogel“ zeige „ausbleibende Reaktionen“, keine geeignete Interessenlage. Sie beenden den Vorgang.Was ohnehin bald passiert wäre: Im November öffnet sich die Mauer. Wenig später sind DDR und Stasi Vergangenheit - und wohl auch eine besonders geartete deutsch-deutsche „Freundschaft“.
Dietmar Seher hat als Korrespondent in Bonn und Brüssel, als Politikchef der Sächsischen Zeitung und in der Chefredaktion der Westfälischen Rundschau gearbeitet. Er wohnt in Dortmund.