
© Stadt Lüdenscheid
Unter Stasi-Verdacht: Spähte Abgeordneter Erwin Welke Dortmunder Spitzenpolitiker aus?
Stasi in Dortmund
In den Stasi-Akten taucht ein gebürtiger Dortmunder auf: Erwin Welke. Er saß im Bundestag und war SPD-Bürgermeister in Lüdenscheid. Dortmunder Politiker könnten auch zu seinen Opfern zählen.
Bonn, in den langen Jahren als Bundeshauptstadt. John le Carré, der britische Thriller-Autor, schaffte es 1968 mit der „Kleinen Stadt in Deutschland“ in die Bestseller-Listen. Sein Spionageroman gab ein Stück Wirklichkeit des Kalten Krieges wieder. Hier wurde der Kampf um Geheimdossiers geführt, mit Romeo-Liebesschwüren und toten Briefkästen und auch mit stillen Notizen in den Hinterzimmern der politischen Macht.
Heute ist dank der Rosenholz-Mikroverfilmungen klar: Mehr als ein Dutzend Bundestagsabgeordnete, die Büros zwischen B 9 und Rheinufer hatten, haben für die andere Seite gearbeitet. Nicht so viele wie befürchtet, aber auch nicht gerade wenige. Eine wichtige Spur führt ins nahe Ruhrgebiet. Nach Dortmund.
Ordnungsliebender Mensch
Name: Welke. Vorname: Erwin. Geb. 9.1.1910 in Dortmund. Parteizugehörigkeit: SPD. Funktion: P.V. Dienststelle: Westfälische Rundschau. Tätigkeit: Redakteur. Adresse: Lüdenscheid, Kaiserallee 6. So steht es in der Erfassungskarte der Hauptabteilung I, Abteilung 3, ausgestellt am 15. April 1955 durch die Hauptverwaltung A der Staatssicherheit der DDR. Die Handschrift ist die eines ordnungsliebenden Menschen. Die Rückseite der Karte ist im Archiv der Stasi-Unterlagenbehörde am Berliner Alexanderplatz nicht verfügbar.
Die Rosenholz-Datei enttarnt Stasi-Agenten
Das Dokument ist Teil der umfangreichen und geheimnisumwitterten Rosenholz-Mikroverfilmung, die einen Einblick in die Welt des politischen Verrats im Deutschland der Nachkriegszeit erst möglich macht. 381 Datenträger mit rund 300.000 Dateien. Alle mikroverfilmt. Sie befasst sich mit DDR-Agenten, die im Westen eingesetzt waren, aber auch mit auszuspähenden oder abzuschöpfenden Zielpersonen, oder nur interessanten Personen. Es sind verfilmte Karteikarten. Die zugehörigen Berichtsakten, die detaillierter beschreiben, was die erwähnten Personen weitergegeben haben könnten, gibt es nicht mehr. Die Staatssicherheit hat sie in der Zeit zwischen Mauerfall und Einheit geschreddert.
Aus der vorliegenden Karteikarte entsteht der Eindruck, dass Erwin Welke, Deckname „Gustel“, über lange Zeit westdeutsche Quelle von Informationen für die DDR-Spionage war. Von 1955 bis wohl Ende der 1960er-Jahre. Der Mann hinter dem Decknamen war erst Journalist, dann wichtiger Politiker. Fünf Wahlperioden, von 1949 bis 1969, arbeitete er im Bundestag. Zuvor war er zwei Jahre Mitglied im Landtag Nordrhein-Westfalens. Er gehörte dem SPD-Parteivorstand an. Eng verbunden blieb er mit seiner westfälischen Heimat. Das sauerländische Lüdenscheid regierte er von 1964 bis 1971 als Oberbürgermeister, wie es damals noch hieß. Heute würde man Bürgermeister sagen.
Dortmunder Spitzenpolitiker im Visier der Stasi
Brisant: „Gustel“, der gebürtige Dortmunder, könnte nicht nur den Duisburger Parlamentarier Eberhard Brünen ausspioniert haben, sondern vor allem auf zwei Dortmunder Spitzenpolitiker angesetzt gewesen sein – die Bundestagsabgeordneten Willi Beuster und Fritz Steinhoff (beide SPD), den früheren Ministerpräsidenten in NRW. Ihre Karteikarten in den Unterlagen der Staatssicherheit sind dem Aktenvorgang von Welke zugeordnet.
Bei beiden gab es einiges zu holen: Der Brackeler Beuster gilt unter den Sozialdemokraten Dortmunds als herausragende Figur. Er stand von 1951 bis in die 1960er-Jahre der Stadtpartei vor. Neben seiner Stadtrats- und Abgeordnetentätigkeit fungierte er mehr als ein Jahrzehnt als Abteilungsleiter der Westfälischen Rundschau – ausgerechnet der Zeitung, für die nach dem Krieg auch Welke schrieb. Steinhoff hingegen, ursprünglich Bergmann aus dem östlichen Vorort Wickede, führte von 1956 bis 1958 die NRW-Regierung in Düsseldorf. Er bildete nach dem Sturz Karl Arnolds (CDU) eine Koalition mit der FDP bei Unterstützung durch die Zentrumspartei und steuerte über Jahre die Landespolitik an Rhein und Ruhr.
„Der Vorgang Gustel muss für die Hauptverwaltung Aufklärung sehr ergiebig gewesen sein“, heißt es in einem 400 Seiten starken Gutachten an den Deutschen Bundestag aus dem Frühjahr 2013, das ein umstrittenes Thema auf die Tagesordnung setzte: die mögliche Arbeit Bonner Abgeordneter für die Staatssicherheit. Verfasser war der Experte Georg Herbstritt, der gemeinsam mit seinem Kollegen Helmut Müller-Enbergs für die Stasi-Unterlagenbehörde mehrere Jahre dazu geforscht hatte.
Die Quelle „Gustel“ war ergiebiger als Günter Guillaume
Über Welke heißt es in dem Report, bis zum Jahr 1966 habe es 23 Berichtsakten gegeben. Später, in der Startphase der Regierung Brandt, noch drei weitere Arbeitsakten, die die Stasi nach 1969 anlegte. Möglicherweise hat Erwin Welke in seinen letzten Monaten aktiver Tätigkeit über den grundlegenden Kurswechsel der Deutschlandpolitik hin zur Entspannung direkt nach Ost-Berlin berichtet. Aus der Quelle „Gustel“ jedenfalls flossen Informationen „über Meinungen führender SPD-Politiker über den damaligen Bundestagswahlkampf sowie Auffassungen zur Deutschland- und Ostpolitik“. In der Summe handelt es sich um etwa 7.800 Blatt Informationen, das ist weit über dem Durchschnitt, sogar mehr, als bei Günter Guillaume, meint Helmut Müller-Enbergs.
Erwin Welke widerstand den Nationalsozialisten
Wer war Erwin Welke? Ein politischer Kämpfer, zweifellos. Über seine frühen Jahre in Dortmund ist wenig bekannt. Nach dem Besuch der Volksschule und der Lehre als Heizungsmonteur blieb er seiner Linie treu. Mit 13 ging er in die Sozialistische Arbeiterjugend, trat 1928 den Sozialdemokraten bei, war beim Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold. Er widerstand der braunen Diktatur. 1933 und 1935 verhafteten ihn die Nazis. Wegen „Hochverrat“ kam er ins Zuchthaus, dann in Gestapo-Schutzhaft. Im 2. Weltkrieg steckten sie ihn ins berüchtigte Strafbataillon 999. Er überlebte den Krieg und geriet schließlich in amerikanische Gefangenschaft.
In Lüdenscheid will man nicht nur aus diesen Gründen von den Berichten über ein Doppelleben und eine Stasi-Quelle „Gustel“ wenig wissen. Hier gilt Welke „als der große alte Mann der Lüdenscheider Kommunalpolitik“, als „erfahrener, gütiger, weiser Stadtvater“. Tatsächlich beeindruckt seine Bilanz als OB. Für die Einrichtung einer Musikschule hat er gesorgt, die Altstadt-Sanierung schob er an. Dass Lüdenscheid einen Anschluss an die Autobahn A 45 erhielt, das ist mit sein Verdienst. Am Vogelberg steht die Gemeinschaftsgrundschule, die nach ihm benannt ist. Auf ihrer Internet-Seite heißt es: „Der Name unserer Schule geht auf einen verdienten Bürger unserer Stadt zurück“.
Kann ein so verdienter Bürger ein Spion sein? Anders gefragt: Wie zuverlässig sind eigentlich die Rosenholz-Informationen?

Erwin Welke (2. von r.) gemeinsam mit Lüdenscheider Genossen in den 60er-Jahren. © Rolf J. Rutzen/Stadt Lüdenscheid
Wahr ist: Viele Sozialdemokraten dieser Generation schienen innerlich zerrissen. War nach Nazi-Herrschaft und verlorenem Krieg der Bonner Weg mit konservativer CDU-Führung und Westbindung der richtige? Oder gab es im Osten doch den Versuch, aus den Kriegs-Trümmern ein besseres Deutschland zu schaffen? Wohl auch vor dem Hintergrund solch tief sitzender Zweifel der Partei-Ahnen haben sich führende SPD-Politiker wie Olaf Scholz zu Beginn der 2000er-Jahre dagegen gesträubt, die 1990 durch die CIA unter dubiosen Umständen in die Vereinigten Staaten entführten und gerade erst aus den USA zurückgegebenen Rosenholz-Mikroverfilmungen genauer auszuwerten. Eine Studie würde „entweder Jahrzehnte dauern oder unseriös werden“, meinte Scholz damals, als er Parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion war. Rückendeckung erhielt er von seinem Unions-Kollegen Norbert Röttgen. Erst unter der zweiten Regierung Merkel ab 2010 gab es für die Forscher der Stasi-Unterlagenbehörde grünes Licht zur Vorlage des Gutachtens.

Karte aus der Rosenholz-Kartei: Die Stasi führte Erwin Welke definitiv als Quelle. War er selbst Agent oder wurde er nur unwissentlich abgeschöpft? Vieles spricht dafür, dass er selbst Stasi-IM war. © BStU
Richtig ist aber auch: Wer über Erwin Welke alias „Gustel“ spricht, darf das wichtige Wort Verdacht nicht vergessen. Die Passage über Welke taucht auf der Seite 228 des Gutachtens auf, mit einigen Wenn und Aber. 2190 Abgeordnete hat der Bundestag zwischen 1949 und 1989 gehabt. 132 von ihnen sind als IMA-Vorgänge eingestuft. Diese Betroffenen sind mit großer Wahrscheinlichkeit lediglich abgeschöpft worden, ohne davon zu wissen. Neun dagegen waren mit Sicherheit Agenten wie William Borm (FDP), Julius Steiner (CDU) und Karl Wienand (SPD). Bleiben elf Parlamentarier, die als Agenten tätig gewesen sein könnten, bei denen dies aber nicht zu beweisen ist. Zehn von ihnen hatten das SPD-Parteibuch. Erwin Welke gehört zu dieser Gruppe.
Die Quelle „Gustel“ bleibt geheimnisumwoben
„Die Eintragungen auf diesen Karteikarten lassen bei der Interpretation nur wenige Spielräume zu. Die lange Erfassungszeit für die HV A spricht für eine Kooperation mit dem Nachrichtendienst“, meint Helmut Müller-Enbergs. In den meisten dieser elf Fälle fehlten jedoch „Hinweise auf den Charakter dieser Verbindung“. Die Schlussfolgerung lässt Bewertungen nach beiden Seiten zu: „Ob Welke bewusst für den DDR-Geheimdienst arbeitete oder ob sich die Hauptverwaltung Aufklärung die Informationen unter einer Legende beschaffte, kann allein anhand der dürftigen Überlieferungslage nicht geklärt werden“, konstatiert Georg Herbstritt.
Wobei „Legende“ bedeutet: Es müsste jemand in seiner unmittelbaren Umgebung gewesen sein, der unbemerkt vom Chef Dinge nach Ost-Berlin weitergab. Nicht selten kam das vor.
Erwin Welke starb kurz vor dem Mauerfall
War es bei ihm so? Oder hat er sich bewusst entschieden, dem Osten zuzuliefern? Erwin Welke alias „Gustel“ erhielt 1966 den Ehrenring der Stadt Lüdenscheid, 1968 das Bundesverdienstkreuz erster Klasse, 1971 wurde der Dortmunder zum Ehrenbürger der Sauerland-Kommune ernannt, der er lange als OB gedient hatte. Nie konnte er zu den Stasi-Vorwürfen befragt werden, die später seiner Person galten. Er starb am 28. Mai 1989, 79 Jahre alt. Erst fünfeinhalb Monate später fiel die Mauer. Geblieben sind nagende Zweifel. Auch ein Stasi-Erbe.
Dietmar Seher hat als Korrespondent in Bonn und Brüssel, als Politikchef der Sächsischen Zeitung und in der Chefredaktion der Westfälischen Rundschau gearbeitet. Er wohnt in Dortmund.