Sozialarbeiter Eymen über Gewalt in der Nordstadt "Mich wundert das überhaupt nicht"

Sozialarbeiter über Gewalt in der Nordstadt: „Eine kollektive Traumakiste“
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Die Nordstadt kann ein friedlicher Ort sein, wie an diesem warmen Nachmittag Ende Oktober. Niemand schreit herum, niemand schlägt, niemand sticht zu. Nur auf der Münsterstraße gibt es eine kleine Kabbelei unter ein paar Schülern - drei gegen einen. Eymen Nahali (34) geht sanft dazwischen. Zufälligerweise kennt er die Jungs.

Sie sind nicht älter als zehn oder elf Jahre. Der eine schildert ihm, dass er von den anderen geärgert werde. Eymen legt seinen Arm um die Dreier-Gruppe. „Könnt ihr den in Ruhe lassen?“, fragt er. Keine Reaktion. Noch einmal mit Nachdruck: „Geht das?" Ein Lachen hier, ein Nicken da. Dann verdrücken sich die Rabauken auf die andere Straßenseite.

Geschockt über erste Eindrücke

„Die hauen sich auch schon mal gegenseitig. Dabei sind die sogar miteinander verwandt“, erzählt Eymen über die Dreier-Kombo. „Niemand kümmert sich um diese Jungs.“ Er ist Sozialarbeiter und systemischer Anti-Gewalttrainer, wohnt selbst an der Münsterstraße. Der 34-Jährige kennt die Schulen, die Jugendzentren und die Straßen der Nordstadt. In den allermeisten Einrichtungen habe er schon mal gearbeitet, erzählt er, während er durch seine Nachbarschaft führt.

Eymen lebt seit sieben, acht Jahren hier, mit einer kurzen Unterbrechung. Er ist kein Dortmunder, sondern zog seinerzeit aus dem Raum Bonn hierher. „Ich war damals schon geschockt“, sagt er über seine ersten Eindrücke von der Nordstadt. „Das hatte für mich noch mal eine andere Qualität. Aber so habe ich Dortmund kennengelernt."

Nordmarkt als Gewalt-Hotspot

Als er das sagt, steht er an der Mallinckrodtstraße, etwa auf Höhe des Nordmarkts, wo einst der Arbeiterstrich war. Die Stadt habe gut reagiert, indem sie das Ordnungsamt an diese Ecke gebracht und Spielhöllen und andere Etablissements dicht gemacht habe.

Eigentlich sei der Nordmarkt ein schöner Park, sagt Eymen. Wäre da nicht die offene Drogenszene. Und wäre da nicht der Alkohol, das „Saufen rund um die Uhr“. Der Nordmarkt war zuletzt Schauplatz mehrerer Gewalttaten, jeweils Messerangriffe. Die Opfer erlitten teils lebensgefährliche Verletzungen.

In der Dortmunder Nordstadt kam es zuletzt immer wieder zu schweren Gewalttaten. Die Polizei hat ihre Kontrollen erheblich verstärkt.
In der Dortmunder Nordstadt kam es zuletzt immer wieder zu schweren Gewalttaten. © Markus Wüllner

Leben in Krisenzeiten

„Mich wundert das überhaupt nicht“, sagt Eymen. „Bei den Leuten ist der Lack ab. Jeder, der hier abhängt, Alkohol trinkt und Drogen nimmt, benötigt einen Psychologen.“ Die Krisen der vergangenen Jahre, besonders mit Blick auf Corona, haben ihre Spuren in der Gesellschaft hinterlassen, sagt er. „Überall gibt es mehr Gewalt, nicht nur auf der Straße, auch in den Familien. Die Sozialarbeiter merken das in den Einrichtungen.“

Mit den gestiegenen Preisen in so gut wie allen Bereichen des alltäglichen Lebens sei die Lage nicht einfacher geworden. „Das belastet jeden.“ Bloß den einen mehr als den anderen. Und dass sich die schwierige Situation bei denen, die am Rand der Gesellschaft leben, nochmals stärker niederschlägt, sei keine Überraschung, sagt der Sozialarbeiter.

Keine einfachen Erklärungen

Eymen ist seit seiner Kindheit vertraut mit sozialen Brennpunkten. Er hat einen natürlichen Zugang zu den Menschen, die in diesen Vierteln leben. Er weiß, wie sie ticken. Die Nordstadt sei eine „kollektive Traumakiste“, sagt er und fügt hinzu: „Dann rappelt es einmal da drin, und einer rastet aus.“

Für die massive Häufung von schweren Gewalttaten in der Nordstadt in den vergangenen Wochen - beispielsweise fünf Messerangriffe an sieben aufeinanderfolgenden Tagen - gebe es keinen spezifischen Auslöser, sagt Eymen. Keinen Streit zwischen Clans oder Drogengangs, keine einfachen Erklärungen. Im Grunde sei alles wie immer, allein die Ausgangslage sei insgesamt schlechter als vor Corona, vor dem Krieg in der Ukraine und vor der Inflation.

Schwache machen sich stark

„Diese Menschen wissen, dass sie sozial schwach sind“, betont der 34-Jährige. Deshalb machten manche sich „vermeintlich stark“. Zum Beispiel, indem sie aufrüsten mit Messern und anderen Waffen. Indem sie teure Markenkleidung tragen. Indem sie sich selbst beweisen, dass sie sich gegen andere durchsetzen können - auch mit Gewalt.

Auf einer höheren Ebene betrachtet: Verhaltensweisen, mit denen Minderwertigkeitsgefühle kompensiert würden, wie Eymen analysiert. Für die Jugendlichen und jungen Erwachsenen auf der Straße jedoch eher die Konsequenz eines Überlebensinstinkts. „Sie wollen nicht schwach sein.“ Oder können es sich eben nicht leisten, schwach zu sein.

Eymen Nahali hat auf einer Bank am Nordmarkt Platz genommen. „Equality“ steht darauf geschrieben. „Das brauchen wir hier“, sagt er, nachdem er die soziale Ungleichheit anprangerte.
Eymen Nahali hat auf einer Bank am Nordmarkt Platz genommen. „Equality“ steht darauf geschrieben. „Das brauchen wir hier“, sagt er, nachdem er die soziale Ungleichheit anprangerte. © Tim Schulze

Von einer Waffenverbotszone in der Nordstadt, die aktuell in der Diskussion ist, hält Eymen nichts. Diese würde die Spannungen auf den Straßen nur noch weiter verschärfen, sei dabei aber gar nicht durchzusetzen, meint er.

Er wünscht sich vielmehr eine drogenfreie Zone am Nordmarkt, sodass man die Konsumenten und Dealer von der Straße wegholen könne. „Verdrängen bringt aber nichts“, sagt Eymen. Stattdessen müsse man einen Raum dafür schaffen.

Die gläserne Decke

Viele Menschen in der Nordstadt führten ein Leben unter einer „gläsernen Decke“, sagt Eymen. Sie könnten die Welt sehen, die sich darüber befindet, hätten zu dieser aber keinen Zugang. „Man muss zunächst diese gläserne Decke aufbrechen.“ Diese sei eine Folge jahrzehntelanger Segregation. Ein Begriff aus der Soziologie, der hier die räumliche Abbildung sozialer Ungleichheit in einer Gesellschaft bezeichnet. Quasi der Nährboden von Parallelgesellschaften.

Eymen ist Vater von einem vierjährigen Jungen. Immer wieder betont er mit Blick auf seine Arbeit, ihm gehe es um die Kinder und deren Zukunftsperspektiven. Da kommen zwei junge Mädchen am Nordmarkt auf ihn zugelaufen. Eines hat ein Paar Sneaker in der Hand. Eymen winkt freundlich ab. „Diese Kinder lernen jetzt schon, dass sie hier draußen Klamotten verkaufen müssen, um Geld zu verdienen“, sagt er. Anstatt sich auf die Schule zu konzentrieren.

Mehr Einzelförderung

„Bildung ist der Schlüssel“, sagt Eymen. Er wünscht sich mehr Personal für Schulen und Jugendeinrichtungen in der Nordstadt. Und insbesondere qualifizierende Maßnahmen, die dem Umfeld, in dem die Fachkräfte arbeiten, gerecht werden. „So ein Lehrer hat doch in der Regel gar keine Ahnung, wie man mit Gewalt umgeht. Da muss sensibilisiert werden.“

Zwar gebe es starke Sozialprojekte - etwa eine Straßenfußball-Liga. Auch das Keuning-Haus mache eine gute Arbeit. Mit Angeboten für Gruppen allein könne man jedoch nicht viel ausrichten. „Die individuelle Förderung ist hier besonders wichtig“, sagt Eymen.

Schule neben Drogenszene

Er sitzt auf einer Bank im Park am Nordmarkt und zeigt in Richtung des Gebäudes einer Grundschule und danach auf die Stelle, wo ein paar Drogendealer auf ihre Kunden warten. „Hier ist eine Schule für junge Kinder, und nebenan gibt es Drogengeschäfte und Messerangriffe“, stellt der Sozialarbeiter fest.

Viele Kinder im Viertel stehen dauernd unter einem negativen Einfluss, der sie und ihre Sicht auf die Dinge nachhaltig präge. Ihrer müsse man sich annehmen, um die Situation auf Dauer zu verbessern. Und zwar bevor es zu spät ist. Bei der krawalligen Dreier-Gruppe von der Münsterstraße ist es bereits höchste Eisenbahn.

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