Sorge bei Obdachlosen nach zwei Toten und einer versuchten Tötung „Wo soll das noch hinführen?“

Sorge bei Obdachlosen nach zwei Toten und einer versuchten Tötung
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Das Wichtigste in Kürze:

  • Zwei Obdachlose wurden in Dortmund innerhalb zweier Tage getötet, einer durch die Polizei, der andere von einem 13-Jährigen.
  • Außerdem wurde das Nachtlager einer wohnungslosen Frau angezündet. Eine Mordkommission ermittelt wegen versuchter Tötung.
  • Der Vorfall und die Todesfälle führen zu großer Unruhe und Verunsicherung in der Obdachlosenszene, da sie sich selbst in Gefahr sieht.
  • Die Polizeiarbeit wird von einigen Obdachlosen positiv, von anderen aber auch negativ wahrgenommen – beispielsweise, weil sie von Einsatzkräften während der Pandemie verjagt worden seien.
  • Der tödliche Polizeieinsatzsorgt nicht für mehr Vertrauen.
  • Wir haben mit Menschen aus der Obdachlosenszene gesprochen, die ihre Sicht auf die Todesfälle geschildert haben.

In der vergangenen Woche sind in Dortmund innerhalb von zwei Tagen zwei Menschen getötet worden. Beide waren obdachlos. Die Fälle unterscheiden sich deutlich voneinander: Am Mittwochabend (3.4.) ist ein Obdachloser, der mit einer Gerüststange bewaffnet war, von einem Polizeibeamten erschossen worden.

Am Donnerstagabend (4.4.) hat ein 13-Jähriger mehrmals auf einen Obdachlosen am Dortmunder Hafen eingestochen. Das 31-jährige Opfer erlag seinen schweren Verletzungen noch vor Ort. Am Mittwoch (10.4.) teilte die Polizei außerdem mit, dass Anfang April das Nachtlager einer wohnungslosen Frau angezündet worden war. Eine Mordkommission ermittelt wegen versuchter Tötung.

Die Obdachlosen- und Wohnungslosen-Szene in Dortmund wühlen diese Vorfälle auf, berichten Initiativen. „Es ist eine große Verunsicherung und Aufregung zu spüren“, sagt Bastian Pütter von Bodo, der am Tag nach dem tödlichen Polizeieinsatz in der Anlaufstelle des Vereins war.

„Das könnte mir auch passieren“

Mehrere Menschen hätten um den Computer gestanden, um Nachrichten zu dem Vorfall zu lesen. Die Videos des Einsatzes seien auch in der Szene herumgezeigt und diskutiert worden, sagt Pütter. „Das ist schon nah.“ Obwohl den erschossenen Mann niemand kannte. Offenbar war er noch nicht lange in Dortmund.

„Einige haben gesagt: ,Das könnte mir auch passieren‘“, sagt Pütter. Seit der Corona-Pandemie gebe es mehr akute psychische Krisen in der Szene. „Menschen springen plötzlich auf, reden mit sich selbst oder schreien herum.“ Sie würden denken: „Ich schreie auch manchmal herum und habe Streit – kann es auch mir passieren, dass ich dann erschossen werde?“

„Bei uns schauen die Menschen sehr unterschiedlich auf die Polizei“, sagt Pütter. „Manche sehen die Beamten sehr positiv, weil sie auch hin und wieder mal einen Kaffee von Polizisten gebracht bekommen. Sie sehen sie, als diejenigen, die sie beschützen. Der tödliche Einsatz hat sie ein Stück weit erschüttert.“

Die anderen hätten ohnehin ein eher schlechtes Bild von der Polizei, sagt Pütter. „Das liegt unter anderem daran, dass sie während der Pandemie von Beamten verjagt worden sind oder Bußgelder verhängt bekamen.“ Das habe für viel Frust gesorgt. Der Einsatz nun habe die Stimmung bei Ihnen noch einmal verschlechtert.

Bastian Pütter arbeitet bei der Wohnungsloseninitiative Bodo.
Bastian Pütter arbeitet bei der Wohnungsloseninitiative Bodo. © privat

„Wo soll das noch hinführen?

Timo lebt seit 10 Jahren auf der Straße. Häufig sitzt er in der Petergasse, in der Nähe der Haltestelle Kampstraße. Timo trägt beide Ansichten in sich. „Manche Polizeibeamte sind echt nett“, sagt er. Grundsätzlich steht er Polizei und Ordnungsamt aber eher kritisch gegenüber, da sie ihn immer wieder Platzverweise erteilen. Der tödliche Einsatz trage nicht zu mehr Vertrauen bei, sagt Timo.

Vom Fall des 13-Jährigen, der den Obdachlosen am Hafen getötet hat, hatte er Montagnachmittag noch nichts gehört. Als ihm der Vorfall geschildert wird, stockt er kurz. Dann schüttelt er den Kopf. „Was soll ich dazu sagen? Dazu fällt mir leider nicht viel ein.“ Dann macht er noch eine Pause. „13 Jahre“, sagt er nur. Es klingt resigniert. „Wo soll das noch hinführen?“

Er hat selbst schon Erfahrungen mit Gewalt und Drohungen gemacht. Als er in seinem Schlafsack lag, habe ihm mal jemand mit voller Wucht gegen den Kopf getreten. Es ist schon länger her. Aber seit einer Woche schlafe er nicht mehr direkt in der City, sagt der 36-Jährige. Dafür sei zuletzt zu viel passiert.

Todesdrohung und ein Becher Urin

Er sei mit einem Becher Urin beworfen worden. In einer anderen Nacht sei eine Gruppe Jugendlicher zu seinem Schlafplatz gekommen. Timo glaubt, sie waren betrunken. „Sie haben gedroht, sie schlagen mich tot.“ Zum Glück gingen sie weiter. „Die denken sich, mit einem Penner kann man es ja machen. Ich tue doch niemandem etwas.“

Gewalt sei ein generelles Problem auf der Straße. Von Obdachlosen untereinander, aber eben auch durch andere. Auch Timo hat von der wohnungslosen Frau gehört, die jemand versucht haben soll, anzuzünden. Wegen des Falls ermittelt nun eine Mordkommission. Die Frau bemerkte das Feuer an ihrem Nachtlager rechtzeitig und blieb glücklicherweise unverletzt.

„Vor ein paar Jahren war das noch nicht so heftig. Ich denke, dass die Politik ganz schnell aktiv werden sollte. Sie sollten zusehen, dass wir Wohnungen bekommen“, sagt Timo. Für ihn sei das nicht so leicht. Er habe Mietschulden. Um eine Wohnung habe er sich schon länger nicht mehr bemüht.

Dabei sei die ein wichtiger Rückzugsort, sagt Bastian Pütter. „Ich kann mich einem Streit nur schwer entziehen, wenn ich kein Zuhause habe. Wir haben viel mit Gewalt zu tun. Es gibt eine hohe Zahl an Raubdelikten, auch körperliche Gewalt.“ Das wenigste finde sich in Statistiken, weil die Menschen nur selten Anzeige erstatten würden. Aber Pütter sieht in der Anlaufstelle regelmäßig blaue Augen. Gefühlt seien es mehr geworden.

Fälle werden in der Szene diskutiert

Um sich in der Nacht vor Gewalt zu schützen, gebe es vor allem zwei Strategien. Entweder schlafe man offen sichtbar an belebten Orten. In der Hoffnung, dass man Hilfe erfährt, wenn etwas passiere. „Oder man schläft so, dass man wirklich auf keinen Fall gefunden wird.“ Die Gegend rund um den Hafen werde dafür von einigen Obdachlosen genutzt.

Patrick, der am Montag auf der Kampstraße sitzt, wohnt mittlerweile seit Januar in einer Wohnung. Vier Jahre hat er auf der Straße gelebt. Er hat immer versteckt geschlafen. „Die Vorfälle beschäftigen mich schon“, sagt er. Große Sorgen mache er sich wegen seiner Wohnung aber nicht.

In der Szene werden beide Fälle aber diskutiert, sagt der 41-Jährige. Offenbar nicht immer mit der tatsächlichen Faktenlage. Patrick sagt mit Blick auf den tödlichen Einsatz, dass es für die Beamten ja auch nicht leicht sei, wenn sie mit jemandem auf Koks mit einem Messer in der Hand zu tun hätten.

Patrick lebt mittlerweile in einer Wohnung. Auf der Straße ist er trotzdem häufig anzutreffen. Die beiden getöteten Obdachlosen sind ein großes Thema in der Szene.
Patrick lebt mittlerweile in einer Wohnung. Auf der Straße ist er trotzdem häufig anzutreffen. Die beiden getöteten Obdachlosen sind ein großes Thema in der Szene. © Lukas Wittland

Übernachten in Gruppen

Der Mann, der an der Reinoldikirche erschossen worden ist, hatte eine lange Stange eines Gerüsts in den Händen. Ob er unter Drogeneinfluss stand, ist nicht bekannt. Patrick sagt, er hat bislang gute Erfahrungen mit der Polizei gemacht. „Ich denke nicht, dass ich denen mal so gegenüber auftrete, dass die mich abknallen“, glaubte er.

„Aber es gibt viele, die auf einem Trip aggressiv auftreten“, sagt der 41-Jährige. Diese Aggressivität kann sich nicht nur gegen Polizeibeamte richten. Auch er hat während seiner Zeit auf der Straße schon Gewalt erfahren. Er sei noch immer glimpflich davon gekommen. Andere habe es schlimmer erwischt.

Auf die beiden aktuellen Todesfälle werde er auf von Passanten angesprochen, die ihm Geld geben. In der Szene werden sie diskutiert. „Seitdem schauen sich die Menschen an und sagen: ,Lass uns mal lieber nicht alleine in der Stadt pennen.‘ Einige finden sich seitdem in Gruppen zusammen.“

„Wut und Trauer zu spüren“

Anna Flaake, Sprecherin der Initiative „Schlafen statt Strafen“, sieht aktuell einen „Verlust des subjektiven Sicherheitsempfindens“ bei Menschen, die auf der Straße leben. Die Initiative, die sich für die Belange wohnungsloser Menschen einsetzt, hatte am Freitagabend (5.4.) eine Demonstration mit rund 230 Teilnehmenden an der Reinoldikirche organisiert. Auch einige wohnungs- und obdachlose Menschen hätten daran teilgenommen. Ihnen habe es gutgetan, die Solidarität zu spüren, sagt Flaake. „Es war sehr viel Wut und Trauer zu spüren.“

Die beiden Vorfälle seien besonders heftig, aber auch so sei Gewalt im Alltag von Menschen, die auf der Straße leben, immer präsent, weil sie keine Rückzugsmöglichkeit haben. „Beleidigungen und tätliche Angriffe gehören leider zur Normalität.“

Anna Flaake von der Initiative "Schlafen statt Strafen" erlebt Wut und Trauer in der Szene.
Anna Flaake von der Initiative "Schlafen statt Strafen" erlebt Wut und Trauer in der Szene. © Oliver Schaper

Flaake kritisiert die repressiven Maßnahmen durch Behörden, sieht aber genauso die Gewalt durch „Normalbürger“. Teils würden sie obdachlosen Menschen als marginalisierter Gruppe die Menschlichkeit absprechen und sie als Menschen mit „geringerem Wert“ ansehen. „Das setzt die Hemmschwelle für Gewalt herunter.“

Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W) dokumentiert seit 1989 Straftaten mittels einer systematischen Presseanalyse. Mehr als 2200 Fälle umfasst die Gewaltstatistik mit Stand des Jahres 2020 – 565 davon mit tödlichem Ausgang.

Laut BAG W sei diese Zahl aber nur die Spitze des Eisbergs. Ein Großteil der Taten werde nicht öffentlich. „Viele werden aufgrund von fehlendem Vertrauen in die Ermittlungsbehörden oder aus Angst vor der Rache der TäterInnen gar nicht erst zur Anzeige gebracht“, schreibt die BAG W. Zudem würden Medien oft nur über ausgewählte Fälle berichten.

Dieser Text erschien erstmals am 9. April 2024.

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