„Singles sind einfach zu wählerisch!“ Dieser Satz ist total daneben, findet Therapeutin Birthe Kottmann

Singles sind einfach nur zu wählerisch!: Birthe Kottmann erklärt, was hinter dem Vorwurf steckt
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„Du bist einfach zu wählerisch!“, ist ein Satz, den Singles häufig aus ihrem privaten Umfeld hören. Ungefragt versteht sich. Und häufig, wenn sie schon länger allein sind.

Ich finde es schlimm, grenzüberschreitend und falsch, wie unbedacht solche Aussagen getätigt werden, denn sie suggerieren der Person am Ende nur, dass sie irgendwie doch selbst schuld sei, in diesem Fall: am Alleinsein.

Dabei wird völlig außer Acht gelassen, ob die Person vielleicht total glücklich mit ihrem Single-Dasein ist. Ob sie zufrieden mit sich und der Situation ist und ob sie überhaupt eine Rückmeldung oder sogar einen Tipp zum Umgang damit möchte.

Allein zu sein bedeutet ja im positiven Sinne bei vielen Menschen auch, dass man sich viel besser auf Freunde und Hobbys konzentrieren kann. Eigene Ziele können fokussierter verfolgt, und der Alltag kann mehr nach den eigenen Bedürfnissen gestaltet werden. Und dies sind nur einige Vorteile daran.

Thomas (Name geändert), 39 Jahre alt, ein Klient von mir, litt eine Zeitlang sehr unter seinem Alleinsein. Grund dafür war aber nicht so sehr sein eigenes Empfinden der Situation, sondern vielmehr machte ihm tatsächlich der soziale Druck seiner Familie zu schaffen.

Aussagen erzeugen Druck

Aussagen wie: „Sei nicht so wählerisch“, „Wir wünschen uns aber auch irgendwann Enkelkinder“, „Du kannst doch so alleine nicht glücklich sein“, „Meine Freundin/Ärztin/Kollegin hat eine Tochter, die kannst du doch mal kennenlernen!“ und so weiter hörte er regelmäßig.

Sie merken schon beim Lesen, wie sich das anfühlt, oder? Es fühlt sich nicht gut an. Es erzeugt Druck - und zwar richtig! Und es ist unangenehm und vor allem unangemessen und absolut grenzüberschreitend. Und es macht etwas mit dem Selbstwert.

Viele werden nun sagen, (und auch Thomas hat das anfangs oft gesagt): „Aber es ist doch nur gut gemeint.“ Nein, ist es nicht.

„Du bist schuld an deiner Situation.“

Schauen wir uns mal den Satz: „Sei nicht so wählerisch“ etwas intensiver an. In diesem Satz steckt zum einen die Botschaft „Mit dir stimmt was nicht.“, was im Umkehrschluss heißt: Du bist schuld. Du bist schuld daran, allein zu sein und keinen Beziehungsmenschen zu finden.

Des Weiteren sagt diese Aussage: Deine Werte/Vorstellungen/Wünsche/Anforderungen an eine Beziehung sind nicht valide, sind nicht so wichtig.

Im Umkehrschluss bedeutet das: Deine Bedürfnisse sind nicht so wichtig. DU bist nicht wichtig. Das sind sogenannte negative Glaubenssätze. „Du bist schuld und du bist nicht so wichtig“.

Negative Glaubenssätze

Nicht so schön, oder? Und ja, ich glaube, dass es in der Absicht nicht so gemeint ist, aber in der Wirkung kann das unterm Strich herauskommen. Ich sage hier deutlich „kann“. Solche Sätze machen Menschen mit stabilem Selbstbewusstsein nicht soviel aus wie Menschen, die eh schon negative Glaubenssätze und ein eher schwächeres Selbstbild von sich haben.

Mit Thomas habe ich viel an seinen alten Prägungen und Glaubenssätzen gearbeitet. Das bedeutet in der therapeutischen Praxis viel Biografiearbeit sowie das Erkennen und Anerkennen der eigenen Gedanken und Gefühle über sich selbst.

Woher kommen diese, dienen die mir noch, oder dürfen andere, positivere Sätze/Gedanken/Haltungen mir selbst gegenüber und über mich in mir Einzug nehmen?

Wut ist die Wächterin unserer Grenzen

Das begleite ich, wie sooft, mit Fragen wie: „Was würden sie ihrem besten Freund raten?“ „Was würden sie gerne auf einen solchen Satz antworten, wenn sie es sich einfach so erlauben würden?“ „Wie alt fühlen sie sich, wenn sie so etwas hören?“

Da kommt dann meist ganz schön viel Wut mit und ein Impuls wie: „Das geht euch gar nichts an!“, oder: „Warum sollte ich nicht wählerisch sein?“

Dies zeigt, wie sehr man sich davor abgrenzen möchte und wie sehr eine Grenzüberschreitung geschehen ist. Die Wut ist immer die Wächterin unserer Grenzen. Deshalb mag ich sie als Therapeutin so gerne.

Ich freue mich regelmäßig, wenn meine Klientinnen ihre Wut (oft auch nur als kleinen zaghaften, wütenden Impuls) spüren. Das ist ein Zeichen dafür, dass sie ihre Grenzen deutlicher spüren und ihre Bedürfnisse wieder wichtig werden!

Meist ist es ein altes Muster, dass wir uns nicht trauen, uns der eigenen Familie gegenüber abzugrenzen, weil es oft so war, dass unsere Grenzen überschritten wurden, in der Kindheit und Jugend bis hin zum Hier und jetzt.

Wie es Thomas heute geht

Thomas lebt immer noch allein und ist nach wie vor zufrieden mit seiner Lebenssituation. Er hat ein gutes soziales Umfeld, was ihn positiv unterstützt, geht seinen Bedürfnissen nach und ist sexuell zufrieden.

Als er auf einer tieferen Ebene erkannte, dass es absolut in Ordnung ist, Ansprüche an eine Beziehungsperson zu haben, in den Werten und Verhaltensweisen, die ihm wichtig sind, kann er dies auch anders, besonders vor seiner Familie, vertreten. Er hat eine andere Haltung sich selbst gegenüber eingenommen. Er ist wichtig und richtig und seine Bedürfnisse und Wünsche sind es auch.

Ich wünsche mir, dass Alleinstehende - wenn überhaupt - mehr gefragt werden, wie es Ihnen mit ihrer Situation geht, ob sie glücklich sind oder was sie brauchen oder suchen, statt eine ungefragte Bewertung ihrer Person und Situation zu erhalten.

Birthe Kottmann ist systemische Einzel,- Paar- und Familientherapeutin in freier Praxis in Dortmund. Der Schwerpunkt ihrer therapeutischen Arbeit liegt darin, Menschen dabei zu begleiten, ihre Muster und Prägungen zu verstehen, zu reflektieren und sich dann so entwickeln, dass sie erkennen, was ihre eigenen Bedürfnisse, Wünsche und vor allem ihre eigenen Grenzen sind.

Dabei zeigen sich häufig frühe Bindungs- und Entwicklungsthemen, die uns zu dem Menschen machen, der oder die wir heute sind. In ihrer Kolumne gibt sie Alleinstehenden und Singles Tipps, wie man mit Einsamkeit, Stress erzeugenden und übergriffigen Kommentaren und den Erwartungen der Gesellschaft, nun endlich doch den oder die Richtige zu finden, umgeht. Mehr Infos und Kontakt unter www.birthekottmann.de.

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