Man muss schon ganz genau hinschauen, um im dunklen Holz die eingeritzten Schriftzüge zu erkennen. Annelie Haaß hat eine Taschenlampe zur Hand und leuchtet auf die ausgeklappten Sitze des Chorgestühls. „1598“ ist dort neben verschiedenen Namen zu lesen
„Mich hat neulich ein Besucher bei einer Kirchenführung gefragt, ob das die ältesten Graffiti Dortmund sind“, erzählt Annelie Haaß, die seit vielen Jahren ehrenamtliche Kirchenführerin in St. Marien ist. Neben den vielen Kunstschätzen des historischen Gotteshauses ist dabei auch das Chorgestühl im Altarraum ein Thema. Hier haben vorwiegend die Geistlichen Platz gefunden - und teilweise offensichtlich ihre Namen hinterlassen.
In Sitzflächen eingeritzt
Annelie Haaß ließ die Frage keine Ruhe und sie ging den Schriftzügen auf den Grund. „Auf fast allen Sitzflächen in unserem Chorgestühl sind Namenseinritzungen zu finden“, berichtet die pensionierte Geschichts-Lehrerin. Nicht alle Inschriften sind noch zu entziffern, teilweise sind es auch nur Vornamen, die auf den Sitzflächen eingeritzt sind.
Die Entdeckung ließ Annelie Haaß keine Ruhe gelassen und animierte sie zu historischen Recherchen. Die 69-Jährige interessierten vor allem die Personen, die hinter den Schriftzügen stecken. In Kirchenbüchern und alten Ratsunterlagen, die im Stadtarchiv erhalten sind, hat sie nachgeforscht - und ist fündig geworden.
Bekannte Ratsfamilien
Sehr deutlich sind die Namen Caspar und Melchior Deginck und Caspar Reinermann zu lesen, stellt Annelie Haaß fest. Die Schriftzüge seien so sorgfältig ausgearbeitet, dass sie wohl kein spontanes Werk seien.

Ob es wirklich die ältesten Graffiti in Dortmund sind, könne man nicht sagen, betont die Kirchenführerin. „Die Einritzungen in unserem Gestühl können frühestens ab dem 16. Jahrhundert vorgenommen worden sein, denn das Chorgestühl wurde erst im Jahr 1523 angeschafft“, erklärt sie.
Die Familie Degginck - heute unter der Schreibweise Degging bekannt - lebte mindestens seit Ende des 14. Jahrhundert in Dortmund. „Sie waren Wandschneider und stiegen zu Fernhandelskaufleuten auf. Nach ihnen ist eine Straße in der Nähe des Großmarktes benannt“, berichtet Annelie Haaß.
Sie fand heraus, dass ein Caspar Degginck zwischen 1530 und 1540 geboren wurde und Wandschneider, Fernhandelskaufmann und 1571/71 Richter war. Er starb 1591 in Dortmund. Ein anderer Inhaber des Namens wurde 1615 zum Richter in Dortmund gewählt.

Mehr Rätsel gab Annelie Haaß der Name Reinermann auf. Sie fand zunächst nur einen Stadtdiener, der für das Jahr 1593 erwähnt wurde, aufgrund seines Standes aber wohl nicht dafür in Frage kommt, sich im Chorgestühl von St. Marien zu verewigen. Später stieß sie allerdings auf einen Caspar Reinermann, der 1593 in Wischlingen als evangelischer Prediger ordiniert worden war. „Haus Wischlingen gehörte ins Kirchspiel Reinoldi“, weiß die Expertin.
Reinermann, dessen Name gleich mehrfach vorkommt, ist nicht der einzige Geistliche, der sich im Chorgestühl verewigt hat. Detmar Sternenberch war 1625 vierter Prediger an St. Reinoldi, fand Annelie Haaß heraus. Anton Niß X., der nebenan notiert ist, wurde 1570 geboren und stammt wie die Deggincks aus einer alten Ratsfamilie. Für 1601 ist er als Weinschenker nachgewiesen. „Der Rat hatte damals das Weinmonopol“. erklärt Annelie Haaß.

Bei ihren Recherchen stößt sich immer wieder auf neue Erkenntnisse, die ein Stück Stadtgeschichte vermitteln. „Da gibt es noch Einiges zu entdecken“, sagt Annelie Haaß und verspricht, weiterzuforschen. Und bei den regelmäßigen Kirchenführungen zu verschiedenen Themen immer donnerstags ab 16.30 Uhr werden die Erkenntnisse Thema sein. Das Chorgestühl wird wohl bei der Führung Anfang Dezember wieder im Mittelpunkt stehen, schätzt Annelie Haaß.
Jahrestag der Stiftung
Um die Geschichte und Zukunft von St. Marien allgemein geht es bei einer anderen Veranstaltung an diesem Freitag (10.11.) der Jahrestag der Stiftung für Kulturgut und Kirchenmusik der St. Mariengemeinde gefeiert, die seit genau 20 Jahren besteht. In dieser Zeit wurden aus Stiftungsmitteln und Spenden insgesamt 720.000 Euro investiert, die größten Summen in die Dach- und Turmsanierung, die Erneuerung der Orgel und der Heizungsanlage. Aktuelles Stiftungsprojekt ist ein neues Lichtkonzept für St. Marien.
Höhepunkte des Stiftungsjahrestages am Freitag um 19 Uhr in der Marienkirche sind die Uraufführung eines Orgelwerks von John Michael Paulson und der Festvortrag von TU-Professorin Dr. Barbara Welzel zum Thema „Kirche und Kulturelles Erbe: Zukunftsperspektiven“. Dahinter steckt die Hoffnung, dass die historische Stadtkirche St. Marien nicht nur eine reiche Geschichte, sondern auch eine gute Zukunft als Kultur- und Gottesdienst-Ort hat.
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