Nadine* weiß, wovon sie redet, wenn sie diesen drastischen Vergleich wählt: „Ich war wie ein Junkie auf der Suche nach dem nächsten Orgasmus.“ So beschreibt die 47-Jährige die schlimmsten Phasen ihrer Sex- und Liebessucht. Bevor ihr bewusst wird, dass sie ein zwanghaftes, zerstörerisches Verlangen nach Geschlechtsverkehr, nach Nähe und Liebe hat, ist sie bereits lange drogenabhängig, greift zum Schluss fast täglich zu Ecstasy und Amphetaminen. Bei ihrem Kampf gegen beide Süchte wird ihr irgendwann klar: Es gibt Parallelen. Auch was Liebe angeht, ist sie immer auf der Suche nach dem nächsten „Schuss“.
Nadines Beziehungsleben ist jahrelang geprägt von „kranken Männern“, sagt sie. Drogenabhängig oder krankhaft narzisstisch seien alle gewesen, die sie als Partner an ihrer Seite hatte. „Ich war die bedürftige Frau, die auf den Typ Bad Boy steht, der Stärke verkörpert und mich beschützt.“ Nur eine einzige liebevolle Beziehung zu einem Mann habe sie geführt und auch die zeigt, dass ihr Verhältnis zu Liebe und Partnerschaft krankhafte Züge hatte. „Da habe ich mich selbst zur Narzisstin entwickelt. Das Liebevolle konnte ich schwer aushalten. Ich habe ihn betrogen, belogen, respektlos behandelt.“
Sex spielt für sie lange eine große Rolle. Bis zu sieben Orgasmen am Tag seien es zeitweise gewesen. „Ich habe mir Männer gesucht, die abrufbar waren, wenn ich wieder Bock hatte. Es kam auch vor, dass ich mit meinem Partner und einer Affäre am selben Tag Sex hatte. Ein Teil von mir fand das besonders schlimm, der kranke Teil von mir hat es genossen.“
Treffen der Liebessüchtigen
Dass sie heute differenziert über ihre Liebessucht sprechen kann, verdankt Nadine einer ganz speziellen Selbsthilfegruppe: den Anonymen Sex- und Liebessüchtigen. Jeden Sonntag trifft sich Nadine in Dortmund mit anderen Betroffenen. Die Gemeinschaft beruht auf einem Zwölf-Schritte-Programm, stark angelehnt an das der Anonymen Alkoholiker. Sie eint der Wunsch, mit dem Ausleben eines sex- und liebessüchtigen Verhaltensmusters aufzuhören.
„Wir geben zu, dass wir unserer Sex- und Liebessucht gegenüber machtlos sind - und unser Leben nicht mehr meistern konnten.“ So lautet der erste der zwölf Schritte. Wie machtlos Nadine zeitweise war, zeigt ein Satz, mit dem sie heute über einen Mann urteilt, mit dem sie sieben Jahre lang eine Beziehung geführt hat. „Dieser Mann hat mich zerstört.“
Er macht sie komplett abhängig von sich: „Er hat mich dazu gebracht, Hobbys und Freundschaften aufzugeben. Ich habe die Verantwortung für mich und meine Gefühle komplett an ihn abgegeben. Er hat mich körperlich und psychisch missbraucht.“ Näher ins Detail möchte die 47-Jährige an dieser Stelle nicht gehen. „Es waren schlimme Sachen. Ich war unterwürfig, er hat mich benutzt.“ Beide nehmen zu diesem Zeitpunkt Drogen. Geschlechtsverkehr hat einen sehr hohen Stellenwert. „Wir hatten besonders anfangs viel Sex, sehr viel Sex. Das hat dann irgendwann abgenommen.“
Nadine sucht die Schuld damals bei sich. „Wenn er mir keine Liebe gegeben hat, habe ich versucht, noch mehr für ihn zu tun.“ Die Beziehung macht sie krank, sie wird depressiv. „Ich habe mir dann psychologische Beratung gesucht und habe da gelernt, dass es keine Liebe war, nur ein süchtiges Verhalten, nur Drama und Krankheit.“
Nach sieben Jahren schafft es Nadine schließlich, sich zu trennen. „Ich hatte Angst vor der Trennung, weil ich noch nie alleine gewohnt hatte. Aber mit der eigenen Wohnung hat meine Genesung eingesetzt. Von da an wurde es besser.“

Allerdings nicht ohne einen weiteren Rückschlag. Ein paar Monate nach der Trennung lernt sie einen anderen Mann kennen, lässt sich auf ihn ein. „Dabei hat er mich auch ausgenutzt, aber es war eine versteckte Manipulation, er war dabei nett und freundlich. Eigentlich keine richtige Beziehung, so ein On-Off-Ding.“
Zusammensein, Schluss machen, Versöhnen, Schluss machen. Ein zerstörerischer Kreislauf. „Ich war in einem berauschten Zustand, high, wenn wir verliebt waren, und dann wieder wie ein Junkie, der auf den nächsten Schuss wartet: Kommt er zurück? Gibt er mir, was ich brauche?“ Sie habe Liebe und Sex verwechselt.
„Immer wieder kam er zu mir, dann hatten wir Sex und dann war er wieder weg. Meine Sehnsucht nach Liebe war so unfassbar groß, alles in mir hat geschrien: Dieser Mann kann dir das geben. Dafür habe ich immer wieder in Kauf genommen, fallen gelassen zu werden.“
Liebessucht ist vielschichtig
Nach sechs Monaten beendet der Mann die Beziehung endgültig. „Das war der Moment, in dem ich dachte: Entweder mache ich mich mit Drogen kaputt oder ich werde mein Leben komplett ändern.“ Nadine schafft den Absprung: zunächst von den chemischen Drogen. Sie macht einen Entzug, schließt sich einer Selbsthilfegruppe für Drogensüchtige an - und hört dort zum ersten Mal von den Treffen der Anonymen Sex- und Liebessüchtigen.
Schon beim ersten Treffen, als sie die ersten Schilderungen der anderen hört, ist ihr klar: „Hier bin ich richtig.“
Dabei sind die Erlebnisse und Empfindungen der Teilnehmer teils sehr unterschiedlich. Nicht immer schlägt die Liebessucht so brutal zu, wie in Nadines Leben. Sie kommt auch zurückhaltender, leiser vor. Wie vielschichtig das Erleben sein kann, zeigt ein Gespräch mit Alexander*, der ebenfalls regelmäßig zu den Treffen der Anonymen Sex- und Liebessüchtigen in Dortmund geht. Er bezeichnet seine Sucht als „Romanzensucht“. Lange Beziehungen findet man - bis auf eine Ausnahme - in seinem Leben nicht, dabei beherrscht ihn die Sehnsucht nach einer Partnerschaft lange fast komplett.
„Ich hatte immer den wahnsinnig großen Wunsch, eine Freundin zu haben. Wenn sich etwas anbahnte, war ich sehr schnell darauf fixiert. Ich habe aber nicht viele Beziehungen, vieles fand nur im Kopf stand.“ Ein Beispiel: Der heute 48-Jährige kommt mit Anfang 20 mit einer Frau zusammen - „Da war ich schlagartig völlig ambivalent und blockiert - retrospektiv hatte ich ein großes Problem mit Nähe, ich konnte sie nicht zulassen.“ In diesem Fall spürt das die neue Freundin schnell - nach wenigen Tagen beendet sie die Beziehung wieder. „Und dann habe ich mich doch noch in sie verliebt und bin ihr zwei Jahre hinterhergelaufen.“
„Unerreichbar“ seien die Frauen gewesen, mit denen er sich eine Beziehung ausmalt. „Dabei ist die schnöde Realität nicht so wie die Träume, die man sich als Romanzensüchtiger ausmalt.“ Alexander erträumt sich, in einer Beziehung „immer glücklich zu sein, dass alle anderen Probleme wegfallen, weil die Frau so großartig ist, der tolle Sex alles überdeckt.“
Mit dieser Einstellung scheitern viele Versuche schon im Ansatz. Einmal führt Alexander eine lange Beziehung - fünf Jahre lang. Doch dann „kam etwas hoch in mir, worauf ich nicht stolz bin.“ Er setzt seine Freundin stark unter Druck, dass sie abnehmen soll. Eine Modelfigur, die seinem Idealbild entspricht, ist das Ziel. „Iss doch einen Apfel und keine Schokolade. Bestell doch keine große Pizza, nimm die kleine.“ Ganz konkret habe er ihr Vorgaben gemacht. Zunächst folgt sie seinen Wünschen, nimmt 10 Kilo ab. „Aber ich habe sie durch diesen Figuren-Terror von mir weggetrieben. Das hat unsere Nähe zerstört.“ Es folgt die Trennung.

Mit jedem gescheiterten Versuch wird die Belastung für Alexander größer: „Beziehungen waren dauerhaft ein Thema - diese Sehnsucht danach. Weil ich diesen wahnsinnig großen Wunsch hatte, eine Freundin zu haben. Das hat mich heruntergezogen und depressiv gemacht, weil es einfach nicht funktioniert hat.“
Oft sind es nur kleine Begebenheiten, die für ihn große Folgen haben. „Ich habe einmal eine Nacht mit einer Kommilitonin verbracht - kein Sex, wir haben nur beieinander übernachtet. Am nächsten Morgen habe ich gesagt: `Wir sind ja jetzt zusammen.`" Als die Frau das verneint, empfindet Alexander das als Beleidigung. „Ich war unglücklich verliebt, habe dann noch wochenlang versucht, sie umzustimmen. Ich habe versucht, es zu erzwingen, dass sie mit mir zusammen sein wollte.“
Nach dem Studienende findet er noch mal eine Freundin. „Sehr attraktiv, genau das, was ich immer gesucht hatte.“ Ein halbes Jahr hält die Beziehung, dann trennt sich die Frau von ihm. Auch hier sieht Alexander das Problem im Nachgang eindeutig bei sich: „Plötzlich habe ich nur noch ihre schlechten Seiten gesehen, mich gefragt, ob sie wirklich die Richtige ist oder es doch nicht passt.“ Völlig „verkopft und negativ“ sei er plötzlich gewesen. „Ich konnte mich nicht öffnen, hatte eine absolute Angst vor Nähe.“
Prägende Kindheitserfahrungen
Was Nadine und Alexander bei allen unterschiedlichen Erfahrungen eint: Beide sehen Ursachen für ihre Sucht in der eigenen Kindheit. „Mein Vater war Alkoholiker, in der Kindheit viel abwesend. Das hat bei mir Defizite erzeugt“, schildert Alexander. „Als Kind habe ich nicht die Liebe und Zuwendung bekommen, die ich gebraucht hätte“, sagt Nadine.
Was sie ebenfalls gemeinsam haben: Sie sind auf ihrem Weg, die Sucht in den Griff zu bekommen, schon weit gekommen. Auch für Alexander sind die Gruppentreffen dafür ein wichtiger Baustein: „Endlich habe ich Leute getroffen, die genau so eine Besessenheit in Bezug auf Beziehung und Sex hatten wie ich.“
Er erkennt, dass er sich anderen persönlichen Herausforderungen stellen muss, die „viel wichtiger sind als die Frage, ob ich eine Freundin habe. Ich habe gelernt, bei mir zu bleiben und loszulassen“. Sein Fokus liegt nun auf dem Hier und Jetzt, nicht mehr bei Sorgen, die die Zukunft vielleicht bringt. Er hat sich ein größeres Selbstbewusstsein erarbeitet. „Ich sorge gut für mich und es interessiert mich - nur für heute - nicht, ob ich nochmal eine Frau finde.“
„Geheilt ist man nie“, sagt Nadine. Aber sie hat auf vielen Ebenen Fortschritte gemacht: Sie ist viel selbstbewusster als früher, das merkt man im Gespräch immer wieder. Sie wirkt sehr reflektiert, schonungslos ehrlich. „Ich habe mich jetzt lange nur auf mich konzentriert und gemerkt, mir geht es super ohne Beziehung. Irgendwann wird sich wieder eine Beziehung ergeben, ganz von allein. Aber ich habe keine Angst mehr davor, Single zu bleiben.“
*Namen von der Redaktion geändert
Kontakt und Hintergründe
- Alle Infos über die Selbsthilfegruppen der Anonymen Sex- und Liebessüchtigen gibt es auf der Internetseite: www.slaa.de Hier bekommen Interessierte auch Infos zur Selbstdiagnose und Merkmalen der Sucht.
- Eine umfassende Abhandlung über die Sex- und Liebessucht haben Forscher der Universität Oxford 2017 veröffentlicht. Sie unterscheiden darin zwischen einer engen und einer breiten Form. Erstere zeige sich durch eine starke Obsession. Betroffene wollen ihrem „Liebesobjekt“ immer nah sein, jede freie Minute mit ihm verbringen. Die zweite Variante sei weniger obsessiv, Betroffene neigen demnach aber dazu, Beziehungen einzugehen, die ihnen schaden.
- Weitere Hilfe zur Selbsthilfe gibt es bei der Dortmunder Selbsthilfe Kontaktstelle. Von dort kann beispielsweise in andere Gruppen vermittelt werden oder es können sonstige Fragen beantwortet werden. Mehr Infos gibt es auf www.selbsthilfe-dortmund.de. Kontakt: Ostenhellweg 42-48, Telefon: 0231 52 90 97, E-Mail: selbsthilfe-dortmund@paritaet-nrw.org
Hinweis der Redaktion: Dieser Artikel erschien ursprünglich am 10. August 2024.
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