Für diese vier Frauen muss es eine Art wahr gewordener Alptraum sein: Sie sitzen einer wildfremden Journalistin gegenüber, die ihnen Fragen über ihre Erkrankung stellt. Eine Erkrankung, die genau unter solchen Umständen allerhöchsten Stress auslöst – ein Gespräch mit einer Fremden ist für die vier Frauen eine Extremsituation.
Die vier Frauen haben eine Sozialphobie. Regelmäßig treffen sie sich in der Selbsthilfegruppe „Sopha“ in Dortmund, gedacht für Menschen mit sozialen Ängsten. Ängste dieser Art kennt in Ansätzen jeder – Angst auf einer Bühne, im Mittelpunkt zu stehen, ein Referat zu halten oder in eine Prüfung zu müssen. Nimmt die Angst eine krankhafte Form an, beherrscht sie das Leben fast komplett.
Nicole (38) hat zeitweise ihre Wohnung nicht mehr verlassen – nicht mal in den Wäschekeller konnte sie mehr gehen, aus Angst, einem Nachbarn zu begegnen. Lena (31) ringt seit Wochen damit, einen Sportkurs zu besuchen. Mehrfach stand sie schon vor der Tür und fuhr dann unverrichteter Dinge wieder heim. Ihre Erkrankung nimmt sie als „einen ständigen Stresszustand“ wahr.
Meisterinnen im Verstecken
Tina (44) geht Situationen bereits im Vorfeld gedanklich immer und immer wieder durch - und fühlt sich schon „schrecklich“, bevor sie überhaupt Realität werden. Für Sandra (53) ist das Beste am Homeoffice, „dass man sich sehr leicht verstecken kann.“
Alle vier Frauen wirken freundlich, lächeln auch mal kurz, senken den Blick aber oft sehr schnell. Sie geben spannende Einblicke in ihre Erkrankung – der Weg dahin ist allerdings zäh, sehr zäh. Weil die vier Meisterinnen darin sind, sich zu verstecken, nicht aufzufallen.
Es ist ein Gespräch, das immer wieder stockt. Die Antworten fallen oft so kurz wie möglich aus. „Ja.“ „Ich weiß nicht.“ „Schwer zu beschreiben.“ „Es ist nicht einfach.“ Hier quasselt niemand nach einer Frage einfach drauflos. Oft herrscht zunächst Schweigen.
Sandra ist die Erste, die sich zumindest ein wenig aus der Deckung wagt. Wie sich die Phobie äußert? „Wenn ich unter Stress stehe, friere ich total und zittere am ganzen Körper.“ Immer, wenn sie im Mittelpunkt stehen könnte oder in einer Gruppe agieren soll, tritt der Stress auf. „Was muss ich jetzt tun, was wird von der Gesellschaft erwartet, wie entspreche ich der Norm?“ Diese Gedanken beschäftigen sie.
Obwohl der Körper so extrem reagiert, sei ihr lange überhaupt nicht klar gewesen, dass sie eine Sozialphobie habe. „Ich war schon als Kind sehr schüchtern. In Richtung Außenseiter. Und bin allen aus dem Weg gegangen. Immer den einfachen Weg.“ Der Weg zur Diagnose verläuft daher auch indirekt: „Ich bin irgendwann zur Psychologin gegangen, die hat gesagt, dass ich eine Sozialphobie habe.“ Der Grund für den Termin dort? „Depressionen“.
Damit ist Sandra nicht allein. Viele Sozialphobiker haben auch depressive Erkrankungen – die mangelnden Sozialkontakte machen einsam, sind ein guter Nährboden für Depressionen, erklärt Winfried, der die Selbsthilfegruppe koordiniert.
Die Diagnose führt Sandra in die Selbsthilfegruppe – lange muss ihre Therapeutin Überzeugungsarbeit leisten, bis sie Kontakt zur „Sopha“-Gruppe aufnimmt. Als sie sich dann für die Teilnahme entscheidet, zieht sie es durch und nimmt am anvisierten Treffen teil. Das ist längst keine Selbstverständlichkeit.

Auf der Internetseite der Selbsthilfegruppe sind die „Infos für Neueinsteiger“ sehr ausführlich: „Wir sind nicht ärgerlich, wenn du dich anmeldest und dann aus Angst doch nicht kommst. Dieses Hin und Her – ich will, ich will doch nicht – kennen wir sehr gut. Das ist einfach so, wenn man sich seiner aushaltbaren Angstgrenze nähert.“
Das kennt auch Lena zu gut. Irgendwohin gehen, wo man neu ist, ist „immer schwierig.“ Seit Wochen versucht sie, zu einem Selbstverteidigungskurs zu gehen. Und scheiterte schon mehrmals an der Tür. „Ich stehe dann da eine Weile und denke mir auch: `Das ist doch kindisch, du gehst da jetzt rein`. Aber da ist so ein Widerstand, ich hab es nicht gemacht.“
Herzklopfen, feuchte Hände, Zittern – der psychische Stress wirkt sich auch körperlich aus. Dieser Widerspruch, etwas machen zu wollen, aber nicht zu können, das kostet die 31-Jährige viel Kraft: „Das ist ein ziemliches Spannungsverhältnis, und ich werde dann auch richtig sauer auf mich, werte mich ab. War ja klar, wieder nicht geschafft.“
Diese ständigen Hürden, das Ringen mit sich selbst – ganz alltäglich. „Bei mir sind das ganz kleine Situationen. Zum Beispiel irgendwo reingehen und etwas zu Essen kaufen. Zum Bäcker gehen und ein Stück Erdbeerkuchen mit Sahne kaufen, an schlechten Tagen geht das nicht.“ Lena ist überzeugt: „Meine Depressionen sind hauptsächlich durch meine Ängste bedingt: Weil ich mich so beschränkt fühle und das Gefühl habe, ich kann ganz viel nicht machen.“
Immerhin kann Lena ihre Krankheit heute benennen, sich damit auseinandersetzen, daran arbeiten. Das war zu Schulzeiten noch ganz anders. „Ich war eigentlich eine gute Schülerin.“ Bis auf die mündliche Mitarbeit. „Du musst dich melden, du musst was sagen, deine Noten gehen alle runter – da war immer ganz viel Druck von den Lehrern.“ Ihr Verhalten erklären kann sie damals noch nicht: „Es gibt ja in jeder Klasse die, die bei jeder Frage etwas rausposaunen – und die Stillen. Ich habe lange gedacht, okay, ich bin halt eine von den Stillen.“
Nicole nickt bei dieser Schilderung zustimmend: „Ich war auch ein sehr schüchternes Kind. Ich habe mich nichts getraut, egal was.“ Ob sie sich in der Schule gemeldet hat, um etwas zu sagen? „Nein, gar nichts. Wirklich gar nichts.“ Als sie als Jugendliche in ein Jugenddorf zieht, spürt sie die Angst extrem: „Da hatten wir Gruppensitzungen und ich war schon eine Stunde vorher so aufgeregt, dass meine Hände klatschnass waren. Mein Herz pochte so, ich konnte nicht mehr.“
Als Erwachsene führt das irgendwann zur völligen Isolation: „Ich habe mich völlig abgekapselt. Irgendwann habe ich die Wohnung gar nicht mehr verlassen. Wenn es abends dunkel wurde, habe ich, wenn mein damaliger Freund nicht zu Hause war, kein Licht angemacht und mich völlig ruhig verhalten. Es sollte niemand wissen, dass ich zu Hause bin, sonst hätte ja ein Nachbar klingeln können.“ Nicole geht nicht mehr zum Friseur. Einkaufen ist nur möglich, wenn ihr Freund mitkommt. Zur Waschmaschine im Keller traut sie sich nur frühmorgens, damit sie keinen Nachbarn trifft. „Irgendwann war doch jemand so früh im Wäschekeller, dann war es damit auch vorbei.“
Alltagssituationen lösen Stress aus
Zunächst hofft Nicole, dass ihre Ängste weniger werden, wenn sie sich völlig versteckt. Das Gegenteil ist der Fall: „Es wurde immer schlimmer. Der Druck wurde immer größer.“ Ein erster Therapieversuch in einer Tagesklinik ist extrem kräftezehrend. „Ich wollte am liebsten direkt wieder nach Hause.“ Aber aus der Klinik heraus ergibt sich die Möglichkeit für ein Praktikum in einer Werkstatt. Dort nimmt sich eine Mitarbeiterin ihrer an, das hilft Nicole weiter. Nach einem weiteren stationären Aufenthalt bekommt Nicole die Angst langsam besser in den Griff.
Heute ist die 38-Jährige längst nicht mehr völlig isoliert, geht zur Arbeit, auch mal auf Veranstaltungen wie Konzerte. Den größten Stress verursachen Situationen, bei denen Gespräche „drohen“. „Das ist sehr anstrengend für mich, weil ich nicht weiß, was ich sagen soll. Was denken die von mir?“ Es sind Momente, die für Nicht-Betroffene völlig alltäglich sind, mit denen man ständig konfrontiert wird. Die scheinbar kleinen Sozialkontakte, die eigentlich eher Wohlbefinden auslösen sollten.
Sozialkontakte, die sie aus der Bahn werfen, kennt auch Tina gut: Beim Einkaufen zum Beispiel, wenn die 44-Jährige, die sehbehindert ist, auf die Hilfe des Verkaufspersonals angewiesen ist: „Treffe ich auf eine nette Verkäuferin, die mir weiterhilft, ist der Tag gerettet. Ist sie unfreundlich, ist der Tag für mich hinüber.“ Jeglicher Alltagskontakt, „wo man Angst hat, vom anderen bewertet, weggeschickt oder abgelehnt zu werden“ ist für sie eine Belastung.
Auch sie kennt die Angst schon lange: „Ich habe schon als Kind gemerkt, ich bin zu ängstlich“ Schlechte Erfahrungen in der Schule haben das noch verfestigt: „Ich wollte nicht mehr in die Schule, weil ich gemobbt wurde – zu Hause wurde das aber nicht ernst genommen.“
Im Erwachsenenalter folgten Therapien, aktuell muss Tina dabei eine Pause einlegen. Umso wichtiger sind ihr die Treffen der Selbsthilfegruppe: „Die Gruppe hat mir sehr viel Stabilität gegeben. Der Zuspruch der anderen tut sehr gut und man bekommt auch ganz praktische Tipps, die anderen im Alltag helfen.“
Der Weg in die Selbsthilfegruppe war für alle der vier Frauen lang und nicht leicht. So wie ihnen geht es vielen Betroffenen. 60 Anfragen bekommt die Gruppe jährlich, schätzt Winfried. Maximal die Hälfte schafft es, wirklich zu einem Treffen zu kommen – vielleicht zehn bleiben mittelfristig zumindest für einige Monate dabei. Sie alle haben damit einen großen Schritt gemeistert.
Leben mit einer Sozialphobie
Das wissen auch die Organisatoren der Gruppe. In ihrem Text für Neueinsteiger schreiben sie: „Wir wünschen dir viel Kraft und Mut bei deinem Abenteuer, unsere Selbsthilfegruppe kennenzulernen.“ Mut haben auch Nicole, Sandra, Tina und Lena bewiesen. Über 90 Minuten haben sie der fremden Journalistin eine Chance gegeben, einen Einblick in das Leben mit einer Sozialphobie zu bekommen.
Das hat Kraft und Überwindung gekostet. Sandra bekommt das von ihrem Körper eindeutig signalisiert: „Mir ist eiskalt“, sagt sie zum Abschluss und reibt sich die klammen Finger.
Selbsthilfegruppe Sopha Dortmund - alle Infos
- Die Selbsthilfegruppe für Menschen mit Sozialen Ängsten trifft sich regelmäßig in der Selbsthilfe Kontaktstelle in der Dortmunder Innenstadt. Ein Erstkontakt ist per E-Mail an info@sozialphobie-do.de möglich.
- Es werden verschiedene Gruppen angeboten: Die Offene Gruppe für Neueinsteiger zum sofortigen Einstieg, Kerngruppen für tiefergehende Gruppenarbeit. Eine Gruppe beschäftigt sich mit Sozialem Kompetenztraining, es gibt zudem eine Spielegruppe und eine Aktionsgruppe.
- Auf der Internetseite www.sozialphobie-do.de informieren die Organisatoren über Soziale Ängste und die Selbsthilfegruppe, haben dort ausführliche Informationen für Neueinsteiger zusammengestellt.
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