Schlaraffenland für Schallplatten: Warum Ulrich Bolz mit “Last Chance“ Geschichte schrieb

© Felix Guth

Schlaraffenland für Schallplatten: Warum Ulrich Bolz mit “Last Chance“ Geschichte schrieb

rnKult-Plattenladen am Hauptbahnhof

Der BVB und ein Notebook-Laden diskutieren über ein Haus an der Katharinentreppe. Es ist ein besonderes Haus, in dem mit „Last Chance“ Dortmunder Musikgeschichte geschrieben wurde. Bis heute.

Dortmund

, 22.05.2019, 17:00 Uhr / Lesedauer: 4 min

Wer zwischen 1980 und 2008 in Dortmund Schallplatten oder CDs jenseits des Massengeschmacks gekauft hat, war mit hoher Wahrscheinlichkeit bei „Last Chance“. Erst zehn Jahre in einer Passage im alten IWO-Hochhaus am Königswall, ab 1990 dann im Continentale-Gebäude am oberen Ende der Katharinentreppe. Es gibt viele Dortmunder, die mit dem Namen „Last Chance“ etwas verbinden.

Ein Plattenladen ist kein Geschäft wie jedes andere: Wer Musik verkauft, der verkauft auch ein Lebensgefühl. Hier kommen Menschen zusammen, die Musik lieben. Deshalb lässt sich anhand der Geschichte von „Last Chance“ erzählen, wie sich Subkultur in Dortmund über zwei Jahrzehnte entwickelt hat. Das fängt beim Punk an, erreicht Wave, EBM, Grunge, Crossover. Und es hört in der Gegenwart nicht auf. Obwohl es den Laden gar nicht mehr gibt.

Der Plattenladen „Last Chance“ schloss vor elf Jahren - und bleibt bis heute in Erinnerung

Ulrich Bolz (67) schloss „Last Chance“ 2008. Fast 30 Jahre hatte er hier mit seiner Frau Christine den Traum vom eigenen Geschäft gelebt. Doch weil damals Downloads und Streaming die Oberhand gewannen, entschlossen sie sich zum „geordneten Rückzug“.

Das Ende war schmerzhaft. Aber es bewahrte sie vor dem Schicksal anderer Plattenladenbesitzer, die ihre Ersparnisse in die vergebliche Rettung ihres Traums versenkt haben. „Wir hätten gerne ein paar Jahre länger gemacht. Aber es ging nicht mehr“, sagt Ulrich Bolz.

Platten verkauft er immer noch über Ebay, ist dabei aber deutlich entspannter als früher. So blickt er zurück auf viele gute Dinge. „Es war eine Zeit des Aufbruchs, eine aufregende Zeit“, sagt Ulrich Bolz.

Ulrich Bolz kurz vor der Schließung seines Plattenladens im Jahr 2008.

Ulrich Bolz kurz vor der Schließung seines Plattenladens im Jahr 2008. © Aloys Reminghorst

Ulrich und Christine Bolz wollen nicht die „Tretmühle“ - und eröffnen ihren eigenen Laden

Punk-Musik bewegt ab Ende der 70er-Jahre auch junge Musikhörer in Dortmund und dem Ruhrgebiet. Doch die guten Platten aus den USA und England sind schwer zu bekommen. Ulrich und Christine Bolz erkennen ihre Chance. „Wir haben beide unser Studium kurz vor Ende abgebrochen. Wir wollten nicht in die Tretmühle rein, sondern das machen, worauf wir Lust haben. Das hat vom ersten Tag an gut geklappt“, sagt der 67-Jährige.

In der Woche der Eröffnung erscheint das Debütalbum der Dead Kennedys („Fresh Fruit For Rotting Apples“). Ulrich Bolz sagt. „Wir konnten gar nicht so viel bestellen, wie die Leute kaufen wollten.“

Die Schallplatten kommen in der Prä-Fax-Ära über weite Wege nach Dortmund. Der Ablauf: Briefe an die Plattenfirmen, Warten auf die Antwort. Danach: schriftliche Überweisung per Vorkasse, wieder Warten. Irgendwann ankert dann ein Schiff in einem niederländischen Hafen. „Zwei Monate nach der Bestellung hatte man dann die Platten im Laden“, erzählt Bolz.

Punks verstecken sich unter den Plattenregalen

Die Leidenschaft mancher junger Dortmunder Punks geht so weit, dass sich eine Gruppe an einem Samstag unter den Plattenregalen versteckt und sich weigert, den Laden zu verlassen. Der schließt damals noch um 14 Uhr - für die Punks offenbar Grund genug zu Revolte.

Der alten Laden in der Passage des IWO-Hochhauses.

Der alten Laden in der Passage des IWO-Hochhauses. © Ulrich Bolz

Die Mode wechselt. Die Stile mischen sich. Aus dem Punk entwickeln sich Genres wie Wave und Gothic. „Last Chance“ bleibt der Ort, an dem die Leute besondere und neue Musik entdecken wollen. Sein Laden ist damals Teil einer vitalen Plattenladen-Landschaft in der Stadt, in der sowohl spezielle Wünsche von „Szeneheads“ als auch der Massengeschmack erfüllt werden.

Bis 2008 tragen Musikhörer ihre Käufe in der Plastiktüte mit einem rauchenden Rockabilly-Zombie-Totenkopf darauf aus dem Geschäft. Die damals kostenlose Tüte mit der unverbindlichen Empfehlung „Buy or die!“ (Kauf oder stirb!) wird heute bei Ebay für 3 Euro pro Stück gehandelt. Ulrich Bolz muss lachen als er das hört. „Ich habe noch ein paar Kisten davon im Keller.“

„Last Chance“ war auch ein Label, das jungen Bands die Tür in das Musik-Business geöffnet hat

Es gibt einen zweiten Teil in der Geschichte von „Last Chance“, der weniger bekannt ist. 1980 gründen Ulrich und Christine Bolz ein Plattenlabel, das denselben Namen trägt wie der Laden. Beinahe hätte „Last Chance“ dabei ein Rock‘n‘Roll-Märchen geschrieben.

An einem Tag im Jahr 1984 kommt ein junger Mann in den Laden und gibt Ulrich Bolz eine Kassette. Der Mann heißt Pete Barany, US-Amerikaner, regelmäßiger Kunde und Sänger der Band The Multicoloured Shades. In dieser spielen fünf Männer aus Marl mit Proberaum in Dortmund eine ganz spezielle Art von Rock mit exzessivem Orgeleinsatz und viel dunkler Verzweiflung in den Texten. Der Sound, irgendwo zwischen The Doors und Sex Pistols, fängt Ulrich Bolz sofort ein.

Er hilft der Band, ein erstes Mini-Album zu produzieren. Die Sache mit The Multicoloured Shades nimmt schnell Fahrt auf. „Durch Last Chance war vieles überhaupt erst möglich“, sagt Michael Döring, damals Bassist der Band.

Der alten Laden in der Passage des IWO-Hochhauses.

Der alten Laden in der Passage des IWO-Hochhauses. © Ulrich Bolz

Psychedelic-Rocker The Multicoloured Shades aus dem Ruhrgebiet stehen neben Pop-Bands wie UB 40

Das Album verhilft der Band zum Durchbruch. Major-Labels aus den USA werden auf die jungen Männer aus dem Ruhrgebiet aufmerksam. Das US-amerikanische Label Virgin Records schlägt zu. Die Band steht auf einmal in einem Portfolio mit Künstlern wie UB 40, Orchestral Manoeuvres In The Dark oder Culture Club.

Das erste Album „Sundome City Exit“ macht 1987 Hoffnung, dass der Rockstar-Traum wahr wird. Mit „Teen Sex Transfusion“ gelingt der Band sogar ein mittelgroßer Disco-Hit. Die Musik-Zeitschrift NME in England tauft die Band „Psychokrauts“. Der deutsche Musikexpress spricht „von einer der vielversprechendsten neuen deutschen Bands“.


Der Ruhm ist zerbrechlich. Das zweite Virgin-Album „Ranchero“ 1989 verkauft sich nicht so gut wie erhofft. Ein Jahr später löst sich die Band auf. Anfang der 2000er-Jahre gibt es eine Wiedervereinigung. Doch 2002 stirbt Sänger Pete Barany im Alter von 42 Jahren an einer Überdosis Psychopharmaka. „Tragisch“, nennt Ulrich Bolz das. „Die Band hätte sonst sicher noch länger weitergemacht.“

Die Geschichte von The Multicoloured Shades geht weiter

Doch ein Teil der Geschichte der Multicoloured Shades und der Label-Historie geht weiter. Die Platten der Band sind immer noch in den Regalen gut sortierter Geschäfte zu finden. Michael Döring arbeitet gerade an einem Tribute-Album, an dem zahlreiche Musiker aus Dortmund und der Region mitgearbeitet haben, darunter der mittlerweile verstorbene Mike Zero, Tex Napalm, 7 Days Awake oder unbekanntere Acts wie The Grey Lodge oder Nona Split.

Die Band probt heute noch im Musik- und Kulturzentrum an der Güntherstraße und ist dort wiederum mit Musikern vernetzt, die heute für die lebendige Szene in der Stadt stehen, etwa die Band Daily Thompson.

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The Multicoloured Shades waren nicht der einzige Impuls von „Last Chance“ für die Musikszene. Auf dem Label erschien auch die Wave/Goth-Formation The Inivincible Spirit um Thomas Lüdke, der immer noch einen Namen in der „schwarzen Szene“ hat.

Heute schaut Ulrich Bolz auf das Eckgebäude, über dessen Fassadengestaltung die Mieter BVB und notebooksbilliger.de gerade diskutieren. „Es hat Spaß gemacht“, sagt er. „Wenn man merkt, dass die Idee, die man hat, angenommen wird, dann ist es das, was eigentlich zählt. Das Geldverdienen ist nur der Nebeneffekt.“