Nach den jüngsten sexuellen Übergriffen auf Frauen in Dortmund haben viele Menschen Angst bekommen. Müssen sie das wirklich? Wir haben mit einem Experten gesprochen.

Dortmund

, 25.08.2018, 04:30 Uhr / Lesedauer: 6 min

Mutmaßlich ein einzelner Mann soll in der vergangenen Woche innerhalb von fünf Tagen drei Frauen überfallen und sexuell belästigt haben. In einem Fall spricht die Polizei gar von „schwerer Vergewaltigung“. Am Freitagmittag haben Beamte einen Tatverdächtigen festgenommen und in einer Pressekonferenz beteuert, sicher zu sein, mit ihm den „Richtigen“ gefasst zu haben.

Während der Live-Übertragung der Pressekonferenz äußerten sich einige User erleichtert. Dennoch sind – das wurde in Gesprächen mit Dortmunder Bürgern klar – einige Menschen von der Überfallsreihe schwer betroffen: Sie haben Angst. Wir haben deshalb mit dem Risikoforscher Prof. Dr. Dr. h.c. Ortwin Renn über die tatsächliche Sicherheitslage in Deutschland gesprochen.

Im Zusammenhang mit den drei Übergriffen in den vergangenen Wochen in Dortmund ist mir mehrfach der Satz begegnet: „Man muss jetzt Angst haben.“ Stimmt das – muss man grundsätzlich Angst haben?

Nein. Fast alle Kapitalverbrechen sind von 2000 bis heute zum Teil dramatisch zurückgegangen. Im Jahre 2000 mussten wir noch 497 Mordopfer beklagen, heute sind es 409. Allerdings ist 2016 und 2017 die Zahl der Morde gegenüber 2015 wieder angestiegen, haben aber das Niveau der Jahre 2000 bis 2006 nicht mehr erreicht. Schwere Delikte wie Mord und Totschlag gibt es also über die letzten 20 Jahre immer weniger.
Heute kommt pro Tag in Deutschland ein Mensch, genau 1,11 Menschen, ums Leben. Ich möchte keine Medienschelte betreiben, doch ist, was beispielsweise im Fernsehen gezeigt wird, prägend: Dort haben wir, wenn wir alle Programme parallel auswerten, rund 26 Morde am Tag bei Krimis und Spielfilmen. Jeder weiß zwar, das ist Fiktion – aber es führt dennoch dazu, dass Menschen, wenn man sie befragt, die Anzahl der Morde in ihrer Stadt enorm überschätzen.

Es ist also gar nicht so gefährlich, vor die Tür zu gehen?

Also das kann man mit Sicherheit sagen: Die Lage in Deutschland wird nicht definitiv nicht schlechter. Was sich jedoch verändert: Es gibt mehr Brennpunkte, also Gegenden, die man nachts lieber meiden sollte. Verbrechen haben sich lokal stärker konzentriert. Genauso gibt es aber auch immer mehr Gegenden, in denen so gut wie gar nichts passiert.

Steigt nach einer Überfallserie wie kürzlich in Dortmund die Wahrscheinlichkeit, Opfer eines Gewalttäters zu werden?

Direkt nach einer Gewalttat kann es zu einem Imitationseffekt kommen, dass andere auf die Idee kommen, auch so etwas zu tun. Der Eindruck, in Gefahr zu sein, entsteht aber auch durch die Berichterstattung: Kurz nach einem außergewöhnlichen Ereignis werden häufig ähnliche Ereignisse, über die sonst nicht oder nur kleiner berichtet würde, prominenter gemeldet. Dadurch entsteht der Eindruck, das Ergebnis finde viel häufiger statt als in der Vergangenheit. Das nennen wir Echoeffekt.
Dabei ist es immer so, dass es in der Statistik Schwankungen gibt. 2017 hatten wir insgesamt 11.282 Fälle von sexueller Nötigung und Vergewaltigung, die von der Polizei erfasst wurden. Und tendenziell geht die Kurve hier eher nach unten als nach oben. Heute werden in Deutschland wesentlich weniger Frauen vergewaltigt als noch Mitte der 90er Jahre.

Ortwin Renn plädiert: Journalismus sollte immer auch „eine Art Anleitung zur Selbstbeobachtung und Skepsis“ vermitteln.

Ortwin Renn plädiert: Journalismus sollte immer auch „eine Art Anleitung zur Selbstbeobachtung und Skepsis“ vermitteln. © berlin-event-foto.de/Weiler

In den Jahren 2015 und 2016 gab es aber mehr angezeigte Fälle von sexueller Nötigung als in den Jahren davor.

Das stimmt. Ein Jahr darauf, 2017, hat sich die Lage wieder normalisiert. Das gilt allerdings nicht für alle Straftaten, zum Beispiel Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung. Dort hatten wir eine Verschärfung des Strafrechts, die zwangsweise zu einer höheren Anzahl von Straftaten geführt hat. Insgesamt ist die Zahl der Straftaten, auch der meisten Gewaltverbrechen, deutlich zurückgegangen, nach zwei Jahren des Aufruhrs. Von 6.727.526 im Jahr 2016 auf 5.761.984 im Jahre 2017. Woran das lag, ist noch zu früh zu sagen.
Insgesamt ist die Zahl der Vergewaltigungen und sexuellen Nötigungen im Jahr 2016 gegenüber den Vorjahren leicht angestiegen, wozu auch die Silvesternacht beigetragen hat. Wir hatten daraufhin sehr viele Anzeigen, möglicherweise wegen der höheren Publizität, aber nur wenige Verurteilungen.

Es wird seit den Vorfällen in Köln viel über die Kriminalität nichtdeutscher Menschen, vor allem Geflüchteter, gesprochen, und hier besonders im Hinblick auf Sexualstraftaten. Wie sieht da die Statistik aus?

Die meisten Vergewaltigungen werden Jahr für Jahr von Deutschen begangen. Das ist auch nicht überraschend, weil es viel mehr Deutsche gibt als Ausländer, die hier leben. Bei nichtdeutschen Staatsbürgern gibt es in der Tat aber eine höhere Wahrscheinlichkeit, dass sie Straftaten begehen. Bei Vergewaltigungen liegt der Anteil nicht deutscher Straftäter bei 15,9 Prozent, obwohl sie nur rund 2 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Das ist statistisch eindeutig.
Man muss dabei allerdings zwei Dinge berücksichtigen: Wenn man als Vergleichsgruppe die deutschen Männer zwischen 18 und 25 Jahren mit geringem Einkommen auswählt – ein Großteil der Einwanderer war so alt –, schmilzt die Differenz zwischen den beiden Gruppen auf nahezu Null. Zweitens sind Geflüchtete mit 1,2 Millionen nur ein geringer Teil all derer, die in der Ausländerkriminalstatistik erfasst werden, wie beispielsweise Touristen und Besucher aus dem Ausland. Es gibt in Deutschland allein 55 Millionen Übernachtungen im Jahr durch Ausländer. Es ist wichtig, dass man bei Vergleichen immer weiß, wie die jeweiligen Vergleichsgruppen zusammengesetzt sind.

Gibt es denn überhaupt so etwas wie eine kontinuierlich gleichbleibende oder zunehmende Gefahr, vor der man sich als Mensch, der in Deutschland lebt, fürchten kann? Oder soll?

Ja, das gibt es – aber es sind total unspektakuläre Gewohnheiten. Zwei Drittel aller Menschen, die vor 70, also frühzeitig, sterben, sterben an den sogenannten „vier Volkskillern“: Rauchen, Alkohol, zu viel und falsche Ernährung und zu wenig Bewegung. Wenn man all das zusammen tut, ergibt das etwa 17 Jahre weniger Lebenserwartung. Zum Vergleich: Übertragen auf Kriminalität liegen wir bei einem durchschnittlichen Verlust der Lebenserwartung bei wenigen Minuten pro Person, nicht einmal bei Stunden. Natürlich ist dieser Vergleich nicht ganz fair, Kriminalität ist man ja nicht ständig ausgesetzt – aber er gibt eine Größenordnung an.
Wir leben heute so sicher wie noch nie: Die Zahl der Straßenverkehrstoten lag mal bei 22.000 pro Jahr, heute sind wir bei 3.500. Auch die Zahl der Unfälle am Arbeitsplatz ist dramatisch zurück gegangen, von 5000 auf jetzt 400 bis 500. Die meisten alltäglichen Lebensrisiken durch Unfälle haben wir in unserer Gesellschaft weitgehend reduziert, und das gilt auch für die Kriminalität

Warum haben viele Leute trotzdem den Eindruck, in ihrem Leben in diesem Land nicht sicher zu sein?

Es wird ja nirgends oder nur sehr selten berichtet, dass es immer besser wird. Auf der Welt passiert immer etwas, das ungewöhnlich ist – besondere, sensationelle angsteinflößende Ereignisse. Nachts überfallen und ermordet zu werden, das ist angstauslösend. So eine Nachricht hat eine ungewöhnlich andere Kraft. Psychologisch ist das nachvollziehbar, dass man Angst bekommt, wenn man so etwas hört. Aber man muss es in Relation, ins Verhältnis setzen. Die Lebenserwartung steigt Jahr für Jahr in Deutschland an! Und unsere Lebens- und Gesundheitsrisiken bewegen sich auf einem vergleichsweise niedrigen Niveau.

Stecke den Menschen in ein enorm sicheres, risikofreies Umfeld – und er fürchtet sich trotzdem. Das klingt, als könnten wir nicht ohne Angst leben.

Nun – hätten Menschen keine Angst gehabt, wären sie ausgestorben. Ein Mensch ohne Angst lebt nicht lang. Nur muss man sich die Frage nach der Fokussierung stellen: Es gibt den Klimawandel, die Finanzkrise, ökologische Probleme – systemisch-globale Krisen wie diese werden in der Wirklichkeit unterschätzt. Auf das Auto verzichten will keiner, den Ausstieg aus der Kohle will man dann auch lieber nicht sofort.

Nach Vorfällen wie denen in Dortmund ist die Erregung in der Regel hoch. Wie lange hält so ein Zustand?

In der Fachwelt heißt das Issue-Attention-Cycle: Die Halbwertszeit eines solchen Zyklus hängt von verschiedenen Faktoren ab. Nach einem Flugzeugabsturz, wenn die Ursache geklärt ist, ist die Aufregung meist nach einer Woche vorbei. Bei Vergewaltigungen oder anderen Kriminalfällen ist die Zeit geteilter Aufmerksamkeit größer. Das hängt aber davon ab: Gibt es Ereignisse, die das eine immer wieder in Erinnerung rufen? Bei den NSU-Morden war es das gleiche: Weil sich die Gerichtsverhandlungen über zweieinhalb Jahre hingezogen haben, wurde immer wieder berichtet, und damit wurden die Erinnerungen ständig neu aktiviert. Ich würde sagen: Bei einer Vergewaltigung, die für öffentliche Empörung gesorgt hat, dauert es maximal zwei bis drei Monate, bis dieses Ereignis öffentlich kein Thema mehr ist.

Nun befinden wir uns als Journalisten in einem Dilemma: Einerseits müssen wir berichten, das ist unsere Pflicht als Chronisten. Andererseits stellt sich die Frage nach der Ausführlichkeit und der Art, wie berichtet wird. Was meinen Sie – wie kann das gelingen?

Einerseits haben Worte eine prägende Kraft. Wenn man von „Asyltourismus“ spricht, ist das nicht einfach nur ein neues Wort, sondern ein Begriff, der eine normative, prägende Kraft hat und das Denken und die Urteilskraft beeinflusst. Eine bewusste Sprache in Berichten ist also sehr wichtig. Auf der anderen Seite braucht es auch ein Bewusstsein darüber, dass Berichterstattung dazu führen kann, dass sehr seltene, aber sensationelle Ereignisse, über die viel berichtet wird, mehr und mehr normal oder alltäglich erscheinen. Heute kann jede Geschichte medial direkt dokumentiert werden, und da liegt die Verantwortung von Journalisten natürlich darin, die Proportionalität von Ereignis und Normalfall mit zu berichten. Über 99 Prozent der bei uns registrierten Flüchtlinge haben keine Gewaltverbrechen begangen!
Zum zweiten ist es auch wichtig mit zu vermitteln, warum bestimmte Informationen bei Personen Angst auslösen – eine Art Anleitung zur Selbstbeobachtung und Skepsis. In meiner Publikationstätigkeit versuche ich stets auf subtile Mechanismen hinzuweisen, die dafür sorgen, dass man in seinem eigenen Urteil manipuliert wird. Populisten auf der ganzen Welt kennen diese Manipulationsmechanismen und wenden sie gezielt an. Wir sollten uns zunehmend bewusst werden, wo wir bei der Kommunikation über Gefahren und Risiken verwundbar und manipulierbar sind.

Ortwin Renn ist Risikoforscher, Soziologe und Direktor des „Institute for Advanced Sustainability Studies“ (IASS) in Potsdam. In seiner Arbeit untersucht er systemische Risiken und Transformationsprozesse im Hinblick auf die Entwicklung der Wirtschaft und Gesellschaft. Seine aktuellsten Bücher sind „Das Risikoparadox. Warum wir uns vor dem Falschen fürchten“ (2014) und „Zeit der Verunsicherung: Was treibt Menschen in den Populismus?“ (2017).