
© Stephan Schütze
„So ein Scheiß!“ - EU-Kommissar Oettinger wettert beim Reinoldimahl in Dortmund
Traditionsveranstaltung
Das Reinoldimahl im Rathaus stand dieses Mal unter höchst aktuellen Vorzeichen. Europa war das Thema. Als Festredner zeigte EU-Kommissar Günther Oettinger klare Kante. Sehr klare Kante...
Sobald die Rathaustüren abgeschlossen sind, bestimmt ein strenges Ritual den Ablauf. Auch am Freitag riefen um 18 Uhr zwei plus vier Gongschläge die rund 330 Gildner und geladenen Gäste der Reinoldigilde an die weiß gedeckten Tische in der Bürgerhalle. Gebeten wurde zum traditionellen Reinoldimahl.
Mittelalterlich war die Menükarte mit Rindfleischsuppe, Pfefferpotthast und Bratapfel. Doch das Thema der Redner hätte im Vorfeld der Europa-Wahlen am 26. Mai aktueller nicht sein können; denn um Europa ging es. EU-Haushaltskommissar Günther Oettinger überraschte den einen oder anderen Zuhörer mit seiner Festrede zur Agenda Europas nach den Wahlen.
Gegen die Autokratie Marke Ankara und Moskau
Der schwäbische Zungenschlag war unüberhörbar, die frei gesprochene, halbstündige Rede aber klar und pointiert. Angesichts nationalistischer Tendenzen in Europa gelte es, für die Werteordnung der EU mit parlamentarischer Demokratie, sozialer Marktwirtschaft, Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit, Meinungs- und Presse-, Glaubens- und Religionsfreiheit einzutreten, mahnte der stellvertretende Kommissionspräsident – im Kampf der Systeme gegen „andere Ordnungen und Unordnungen“, gegen die „Autokratie Marke Ankara und Marke Moskau“ und gegen den Autokraten im Weißen Haus.
„Wenn wir das erhalten wollen“, so der EU-Kommissar weiter, „dann müssen wir endlich dafür kämpfen. Doch wir sind träge und fahrlässig unterwegs“. Man ruhe sich auf den Erfolgen der Vergangenheit aus, unterhalte sich lieber über sein Golf-Handycap. „So ein Scheiß“, sagte Oettinger, „wir sollten besser darüber sprechen, wie wir im Wettbewerb friedlich, aber hart und ehrgeizig mithalten können.“

Rund 330 Gildner und geladene Gäste kamen zum Reinoldimahl in die Bürgerhalle des Rathauses und nahmen Platz an den weiß gedeckten Tischen. © Stephan Schütze
Europa mal eine Woche abschalten
Um den Mehrwert der Europäischen Union – Friedensunion, Binnenmarkt mit gemeinsamer Währung und Wertegemeinschaft – zu verdeutlichen, müsse man Europa mal eine Woche lang abschalten, so Oettinger. Und mit Blick auf sechs neu zu besetzende Spitzenposten und eine zu 60 Prozent neue Parlamentsbesetzung: „Wir werden erst zum Jahresende wissen, ob Europa gestärkt oder geschwächt aus den Europawahlen hervorgehen wird. Die Kunst wird darin bestehen, ein Personalpaket für die erste Reihe zu schnüren – gegen die Autokraten gemeinsam in die Zukunft.“ Verbündet als „Team Europa“.
Für den zweiten Rednergang knüpfte aus den Reihen der Gildner Prof. Dr. Guido Quelle, Geschäftsführender Gesellschafter der Mandat Management GmbH Dortmund thematisch an Oettinger an, beleuchtete die Parallelen von Europa und Unternehmen aus Wachstumssicht. Für „intelligentes Wachstum“ durch Innovation, Fortschritt und Weiterentwicklung brauche es eine Vision, eine Strategie, Ziele und Führung. Eine Vision habe er für Europa nicht gefunden, so Quelle. Europa wolle weg von heute, wisse aber nicht richtig wohin.
Eine gute Vision eint und grenzt nicht aus
Welche Kraft eine Vision habe, habe China gezeigt und zeige es aufs Neue mit der Seidenstraße. Auch Trumps „Make America great again“ sei eine Vision, wenn auch keine gute; denn sie spalte das Volk. Quelle: „Eine gute Vision grenzt nicht aus, eine gute Vision eint.“ Ob wir morgen wachsen, werde in Europa und in den Unternehmen heute entschieden.
So war das Reinoldimahl 2019
Beide Redner sowie René Scheer, Sprecher der Ehrenmeisterrunde, appellierten, am 26. Mai an die Wahlurnen zu gehen. Oettinger: „Europa ist unser gemeinsames Projekt.“ Oberbürgermeister Ullrich Sierau konnte in seinem Grußwort, das länger ausfiel als die Festreden, dazu Mut machen. An der Briefwahl abzulesen, werde es in Dortmund eine „deutlich höhere Wahlbeteiligung“ geben als vor fünf Jahren. Bislang seien dreimal so viele Briefwahlunterlagen angefordert worden wie im gleichen Zeitraum 2014.
Stellvertretende Leiterin der Dortmunder Stadtredaktion - Seit April 1983 Redakteurin in der Dortmunder Stadtredaktion der Ruhr Nachrichten. Dort zuständig unter anderem für Kommunalpolitik. 1981 Magisterabschluss an der Universität Bochum (Anglistik, Amerikanistik, Romanistik).
