„Mega“, „Super Rede“, „Auf den Punkt“: Die Meinung der rund 300 Gäste an diesem Freitag im Dortmunder Rathaus dürfte nahezu einhellig gewesen sein: Die Rede des ehemaligen saarländischen Ministerpräsidenten und Ex-Bundesverfassungsrichters Peter Müller beim Reinoldimahl hielt viele von ihnen nicht auf den Sitzen gehalten.
Stehende Ovationen waren die weit überwiegende Reaktion auf das, was der 68-Jährige der versammelten Dortmunder Stadtgesellschaft zu sagen hatte. Peter Müller hatte dem überwiegenden Teil der Besucherinnen und Besucher offenbar aus der Seele gesprochen.
Dabei war der CDU-Politiker, der mit 44 Jahren 1999 Ministerpräsident des Saarlandes geworden war, weit entfernt von Schwarz-Weiß-Malerei.
Müller skizzierte, warum Deutschland eigentlich beste Voraussetzungen mitbringt, erfolgreich zu sein. 75 Jahre alt wird das Grundgesetz in wenigen Tagen. Es sichere hierzulande die Meinungsfreiheit, ja, die Demokratie schlechthin. Um es mit den Worten Müllers zu sagen: „Wir sind in einer Situation, in der wir Grund hätten, uns zu freuen.“
Doch Peter Müller konstatierte auch, „dass wir eine gute Verfassung haben, aber nicht in einer guten Verfassung sind“. Und stellte fest: „Die Stimmung ist verdrießlich.“
„Demokratie verliert an Akzeptanz“
Weder der Entwicklung auf der ganzen Welt noch der in Deutschland stellte Müller ein gutes Zeugnis aus. Ja, Deutschland habe sich im aktuellen Index der Pressefreiheit von Platz 21 auf Platz 10 verbessert, „aber nicht, weil wir besser geworden sind, sondern weil die anderen schlechter geworden sind“.
In Deutschland laufe einiges schlecht: Ökonomisch sei man „Absteigerland“ und, noch alarmierender: „Die Demokratie verliert an Akzeptanz.“
Doch Müller beließ es nicht bei Kritik, sondern skizzierte, was die Menschen tun könnten, um die Situation wieder zu verbessern. So müssten wir stärker den „Wettlauf der Systeme“ annehmen. „Europa wird sich stärker auf eigene Beine stellen müssen“, sagte Müller, unabhängig davon, ob Donald Trump im November die US-Präsidentschaftswahl gewinne.
Der zweite Appell richtete sich direkter an das Publikum im Dortmunder Rathaus: Die Demokratie müsse „mit offenem Visier“ verteidigt werden. Eine deutliche Absage erteilte Müller einem möglichen AfD-Verbotsverfahren. Dessen Erfolg wäre erstens vollkommen zweifelhaft, zweitens brächte es die AfD in eine Märtyrer-Rolle, die nicht gut wäre, findet Müller. Er forderte stattdessen: „Wir müssen die Auseinandersetzung mit diesen Typen annehmen!“

Dazu gehöre, dass Journalisten weniger „Haltungsjournalismus“ betrieben. Meinungsfreiheit müsse bedeuten, dass es nichts Unsagbares gebe, das sich „im Rahmen von Recht und Gesetz“ bewegt: „Wenn etwas unter den Teppich gekehrt wird, dann wird es giftig“, sagte Müller unter dem Beifall der Zuhörerinnen und Zuhörer.
In der Pflicht stehe aber auch die Politik, die dringend weniger regulieren müsse. „Wir leben in einer Misstrauenskultur“, stellte Müller fest und forderte: „Wir brauchen mehr Vertrauen in die Eigenverantwortung!“
Womit er schließlich die Gesellschaft ansprach. Den Menschen in Deutschland müsse wieder bewusst werden: „Es gibt keinen Wohlstand ohne Anstrengung“, sagte Müller, der kritisierte, dass Work-Life-Balance zunehmend als ein Leben ohne viel Arbeit verstanden werde. Gelten müsse aber: „Work ist nichts Schlechtes, sondern Teil der Erfüllung.“ Was in seiner Feststellung mündete: „Wir brauchen Eliten!“
Fast schon überraschend positiv wirkte angesichts der Diagnosen Müllers seine Schlussfolgerung, wir hätten in Deutschland ein Umsetzungsdefizit, aber: „Es gibt keinen Grund, verzagt zu sein!“
Den Reinoldigildnerinnen und -gildern sowie ihren Gästen gab die Festrede jedenfalls genügend Diskussionsstoff, sodass sich die Feier, die erstmals seit 2019 wieder im Rathaus stattfand, bis kurz vor Mitternacht und damit deutlich länger hinzog als geplant.
Viele Fotos und ein Video vom Reinoldimahl finden Sie unter ruhrnachrichten.de/dortmund