Wirtschaft fehlen Arbeitskräfte Jobcenter-Chef: „Kopfrechnen braucht es in vielen Jobs nicht“

Neuer Jobcenter-Chef: „Kopfrechnen braucht es doch nicht unbedingt“
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Der Dortmunder Arbeitsmarkt ist 2022 trotz schwieriger konjunktureller Einflussfaktoren wie Inflation, Energiekrise, Pandemie und Materialknappheit weitestgehend stabil geblieben. Unternehmen in vielen Branchen suchen sogar händeringend neue Mitarbeiter.

Wir haben mit dem neuen Leiter des Jobcenters, Marcus Weichert, darüber gesprochen, wie sich angesichts von 34.000 Arbeitslosen in Dortmund (davon sind fast 28.000 Menschen beim Jobcenter gemeldet) Arbeitskräfte für die heimische Wirtschaft gewinnen lassen. Marcus Weichert hat zum 1. Februar die Aufgabe als Chef des Jobcenters übernommen.

Dem Arbeitsmarkt in Dortmund fehlen knapp 4300 Arbeitskräfte (gemeldete offene Stellen im Januar). Dagegen sind beim Jobcenter aktuell 27.851 Menschen als arbeitslos gemeldet. Warum ist es so schwer, diese Menschen in einen Job zu bringen?

Das erkläre ich am besten an einem einfachen Beispiel: Wir haben in Dortmund zurzeit 150 offene Stellen für Mechatroniker. Bei uns im Jobcenter sind aber nur 15 Personen gemeldet, die das Anforderungsprofil für den Job erfüllen. Mit denen kann ich also den Arbeitskräftebedarf nicht decken.

Können Sie mit den Möglichkeiten, die das Bürgergeld jetzt bietet, mehr Arbeitslose für die Jobs qualifizieren, die in Dortmund gebraucht werden?

Ja, mit dem Bürgergeld werden die dauerhafte Integration in Arbeit und die Verbesserung der Arbeitsmarktchancen durch Weiterbildung stärker in den Fokus gerückt. Es steht jetzt mehr Geld zur Verfügung, um Menschen zu qualifizieren und sie nach Jahren der Arbeitslosigkeit wieder für die Aufnahme einer Arbeit zu befähigen. Das ist auch dringend nötig, da nur ein Viertel aller gemeldeten Stellen in Dortmund für Ungelernte geeignet sind, diese Ungelernten aber zwei Drittel unserer Kunden ausmachen. 70 Prozent der von Langzeitarbeitslosigkeit betroffenen Menschen haben keinen Berufsabschluss.

An Tagesstruktur gewöhnen

Seit Jahren geht es doch schon um das Fördern und Fordern von Arbeitslosen, um Umschulung und Qualifizierung. Trotzdem haben wir eine so hohe Langzeitarbeitslosigkeit in Dortmund, rund 16.000 Menschen sind seit einem Jahr und länger arbeitslos. Warum wird mit der jetzigen Arbeitsmarktreform alles besser?

Natürlich haben wir auch die Mühseligen und Beladenen bei uns. Die sind aber keinesfalls arbeitsunwillig. Sie benötigen nur verstärkt Hilfen. Mit dem Bürgergeld wird es stärker institutionalisiert, dass wir diese Menschen an die Hand nehmen und ihnen bei der Gewöhnung an eine Tagesstruktur helfen und sie am neuen Arbeitsplatz unterstützen können. Diese Sozialarbeit kaufen wir ein. Und das lohnt sich. Meine Erfahrung ist, dass Menschen nach einem selbstbestimmten und auch selbstfinanzierten Leben streben.

Das heißt, nach Ihrer Überzeugung lassen sich alle Arbeitslosen, auch der große Teil der ungelernten Männer und Frauen, für einen Job bei Dortmunder Unternehmen befähigen?

Ja, das glaube ich fest. Natürlich müssen wir den Bedürfnissen der heimischen Wirtschaft entsprechend qualifizieren, aber die Arbeitgeber müssen auch ihre Anforderungsprofile überdenken. Ich frage mal etwas provokativ: Muss jemand gut im Kopfrechnen sein oder reicht es, wenn er Excel-Tabellen programmieren kann? Ich denke, Kopfrechnen braucht es in vielen Jobs nicht unbedingt.

Marcus Weichert (l.) hat als Leiter des Jobcenters die Nachfolge von Dr. Regine Schmalhorst (Mitte) angetreten. Zusammen mit Heike Bettermann, der Geschäftsführerin der Arbeitsagentur, verantwortet er jetzt die Arbeitsverwaltung in Dortmund.
Marcus Weichert (l.) hat als Leiter des Jobcenters die Nachfolge von Dr. Regine Schmalhorst (Mitte) angetreten. Zusammen mit Heike Bettermann, der Geschäftsführerin der Arbeitsagentur, verantwortet er jetzt die Arbeitsverwaltung in Dortmund. © Peter Wulle

Digitalisierung und Künstliche Intelligenz ersetzen tatsächlich oft Basiswissen und einfache Vorgänge. Aber viele - vor allem einfache Jobs - fallen dadurch ganz weg. Macht es das nicht auch schwieriger, gering Qualifizierte zu vermitteln?

Mit Innovationssprüngen sind immer Jobs weggefallen, aber mit etwas Zeitverzug sind auch wieder neue entstanden. So wird es heute auch sein. Ein Beispiel: Daraus, dass der Sonntag der umsatzstärkste Tag im Onlinehandel ist, wird ja nicht resultieren, dass der Onlinehandel sonntags verboten wird. Handel und auch Dienstleistungen werden in Zukunft eher rund um die Uhr und an sieben Tagen die Woche verfügbar sein. Das schafft neue Jobs.

Erste Erfolge Ende 2026

Welche Branchen in Dortmund suchen aktuell die meisten Arbeitskräfte und aus welchen Wirtschaftsbereichen kommen die meisten Arbeitslosen?

Die meisten offenen Stellen sind bei uns im Bereich Lagerwirtschaft/Post/Zustellung gemeldet. Es folgen der Handel, der für den Verkauf Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sucht. Viele offenen Stellen gibt es auch in der Kranken- und Altenpflege. Aus den beiden erstgenannten Branchen hatten wir im Januar auch die meisten Zugänge.

Beim Jobcenter Dortmund, hier der Standort am Südwall, sind aktuell genau 27.851 Menschen als arbeitslos gemeldet.
Beim Jobcenter Dortmund, hier der Standort am Südwall, sind aktuell genau 27.851 Menschen als arbeitslos gemeldet. © Stephan Schütze

Wie erklärt sich das? Einerseits werden in der Lagerwirtschaft und im Verkauf Leute gesucht, andererseits werden also auch viele entlassen?

Die genannten Branchen haben oft eine größere Fluktuation, da Vorstellungen und dann der berufliche Alltag nicht immer passend sind. In der Kranken- und Altenpflege gibt es aufgrund des demographischen Wandels dazu noch steigende Bedarfe. Daran sehen Sie, dass der Arbeitsmarkt ein sehr dynamischer Markt ist. Die gut 27.000 Menschen, die im Jobcenter Dortmund arbeitslos gemeldet sind, sind nicht immer dieselben. Im vergangenen Jahr haben wir 11.200 unserer Kundinnen und Kunden auf dem Arbeitsmarkt integrieren können. Davon befanden sich zuvor rund 6300 Personen im Langzeitleistungsbezug.

Mit welchem Ziel treten Sie als neuer Chef des Jobcenters in Dortmund an? Wann werden Sie die ersten Erfolge des Bürgergeldes vermelden können?

Wir können in Dortmund noch eine Menge Arbeitskräfte-Potenzial heben. Ich sage: die Zahl der Arbeitslosen muss kontinuierlich weniger werden. Daran muss ich mich messen lassen. Die Qualifizierungsmaßnahmen beim Bürgergeld sind teilweise auf mehrere Jahre angelegt. Deshalb werde ich erste Erfolge erst Ende 2026 vermelden können.

Als Nachfolger von Dr. Regine Schmalhorst, die nach Nürnberg zur Bundesagentur für Arbeit gewechselt ist, hat Marcus Weichert am 1. Februar die Leitung des Jobcenters Dortmund übernommen.

Er ist in Berlin geboren und aufgewachsen, ist verheiratet und hat zwei Kinder. Der gelernte Bankkaufmann kam nach mehreren beruflichen Stationen im In- und Ausland und in verschiedenen Branchen 2014 zur Bundesagentur für Arbeit. 2015 wurde er Chef der Arbeitsagentur in Hagen und ist also im Ruhrgebiet nicht neu. Es folgten weitere berufliche Stationen als Agenturchef in Bergisch-Gladbach und zuletzt als Mitglied der Geschäftsführung in der Regionaldirektion Berlin-Brandenburg.

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