
Nahid Farshi stammt aus dem Iran. Seit 1987 lebt sie in Dortmund. Auf die Proteste in ihrem Heimatland blickt sie mit Hoffnung und Entsetzen. © F: Wickern, Gorecki; M: RN
„Nachts werden die Leichen beseitigt“ – Nahid Farshi aus Dortmund flüchtete selbst aus Iran
Proteste in Iran
Nahid Farshi stammt aus dem Iran und lebt in Dortmund. Auf die Proteste in ihrem Heimatland blickt sie mit Hoffnung und Entsetzen. Die Härte des iranischen Regimes hat sie selbst erlebt.
Die Repression der iranischen Regierung hat die Dortmunderin Nahid Farshi am eigenen Leib zu spüren bekommen. Als junge Frau engagierte sie sich im Iran für Frauen- und Menschenrechte. Dem Mullah-Regime war das ein Dorn im Auge. In Teheran wurde Nahid Farshi mehrmals verhaftet. Ihre Wohnung durfte sie nicht mehr betreten.
Nach drei Monaten im Untergrund ergriff die damals 20-Jährige im Jahr 1984 schwanger die Möglichkeit zur Flucht nach Deutschland. Seit 1987 lebt sie in Dortmund. Proteste gegen das Regime habe es im Iran immer schon gegeben, erzählt die heute 59-Jährige. Immer wurden sie von Regierungstruppen brutal niedergeschlagen. Tausende Menschen wurden erschossen oder hingerichtet, unzählige landeten in den Gefängnissen des Landes.
Tod von Mahsa Amini löst Proteste im Iran aus
„Seit 43 Jahren denken die Menschen bei jedem Protest: Diesmal wird es gelingen, die Regierung zu stürzen. Diesmal wird es gelingen. Aber diesmal wird es wirklich passieren. Das alles ist nicht mehr aufzuhalten“, sagt Nahid Farshi. Sie leitet das Integrationsnetzwerk „lokal willkommen“ und ist Vorsitzende des iranischen Menschenrechtsvereins Simorgh. „Simorgh“ ist ein Fabelwesen der persischen Mythologie. Als König der Vögel steht er für Freiheit.
Die aktuellen Proteste im Iran sind durch den Tod von Mahsa Amini ausgelöst worden. Die 22-jährige Iranerin starb, nachdem die Sittenpolizei sie festgenommen hatte, weil sie ihr Kopftuch nicht richtig getragen habe. Offenbar wurde sie auf einer Wache so gewaltsam verprügelt, dass sie später im Krankenhaus starb.

Hunderte Menschen haben am Samstag (24.9.) am Nordausgang des Hauptbahnhofs demonstriert. Anlass sind die Proteste der Menschen im Iran gegen die Regierung. © Karsten Wickern
Dass Frauen in Polizeigewahrsam sterben, sei schon häufig vorgekommen, sagt Nahid Farshi. „Oftmals werden diese Tode aber vertuscht. Nachts werden die Leichen beseitigt.“ Um das zu verhindern, seien noch in der Nacht Demonstranten vor das Krankenhaus gezogen, in dem Mahsa Amini lag. Ihr Foto verbreitete sich in den sozialen Netzwerken. Andere Frauen teilten Bilder von sich ohne Kopftuch mit dem Hashtag #Mahsa_Amini.
„Auch bekannte Schauspielerinnen habe sich so gezeigt. Ihre Karriere ist damit beendet, aber es ist ihnen egal“, sagt Nahid Farshi. „Es ist eine einzigartige Bewegung.“ Und sie ist auch im Dortmunder Stadtbild sichtbar. Am Samstag hat es zwei Demonstrationen mit hunderten Teilnehmern gegeben, auf denen Frauen ihre Kopftücher verbrannt haben.
Trauriger und wütender Protest auch in Dortmund
Am Dienstagabend protestierten erneut etwa hundert Menschen vor dem Fußballmuseum. Auch Nahid Farshi war vor Ort und beschreibt die Stimmung als gleichermaßen traurig und wütend. Bei der Organisation der Proteste hält sie sich im Hintergrund. Junge Studierende aus dem Iran und mit iranischen Wurzeln haben diese übernommen. Auch das sei neu, sagt die 59-Jährige.

Bei einem Protest des Nationalen Widerstandsrates Iran (NWRI) vor der iranischen Botschaft in Berlin halten Teilnehmer Bilder der verstorbenen Mahsa Amini in Händen. © picture alliance/dpa
Studierende im Ausland seien sonst eher zurückhaltend gewesen. Mit ihren Studentenvisa können sie in den Iran ein- und ausreisen. Mit der öffentlichen Teilnahme an Demonstrationen gefährden sie dieses Privileg. „Sie sind sehr mutig. Dahinter steht die Hoffnung, dass das Regime endlich verschwindet.“
Doch viele wollen sich aus Angst vor Repressionen lieber nicht öffentlich zeigen oder äußern. Das offenbart auch die Recherche zu diesem Artikel. Als die Demonstration am Dienstagabend schon beendet ist, steht noch eine Gruppe aus vier Personen vor der Katharinentreppe. Sie unterhalten sich. Alle vier kommen aus dem Iran, leben aber mittlerweile in Deutschland. Ihre vollen Namen wollen sie nicht nennen. Auf die Frage nach einem Foto, sagt ein Mann: „Nein, das geht nicht.“
Sie fürchten Konsequenzen für ihre Verwandten im Land. „Ich kann mich in Deutschland, in einem freien Land, frei äußern. Aber für die Menschen im Iran kann das den Tod bedeuten“, sagt eine Frau mit grauen Haaren. Mit Vornamen heißt sie Solmaz. Seit sieben Jahren lebt sie in Dortmund. Wie die Frau, die neben ihr steht, trägt sie kein Kopftuch.

Ein Polizeimotorrad im Iran brennt während eines Protests gegen den Tod von Mahsa Amini. © picture alliance/dpa/AP
Polizisten schießen auf Demonstrierende
„Ich kann in Deutschland selbst entscheiden, ob ich es tragen will, die Menschen im Iran können das nicht“, sagt sie. „Und auch die Kinder der Politiker, die im Ausland leben, tragen sie nicht. Wenn es doch haram [Anm. d. Red.: nach islamischen Glauben verboten] ist, sie nicht zu tragen, warum ist es dann nicht für alle haram?“
Einer der Männer zeigt Videos auf seinem Handy, wie die Sittenpolizei auf Motorrädern angefahren kommt. Ein Mann steigt ab und schlägt mit seinem Schlagstock auf Frauen ein. In einem anderen Video sieht man einen Polizisten, der auf dem Boden kniet. Mit seiner Pistole schießt er auf weglaufende Menschen. Es sind nur wenige Aufnahmen, die aus dem Iran nach außen dringen. Die Regierung hat das Internet abgeschaltet.
„Wir alle haben Freunde und Verwandte im Iran, wir können aber nicht mit ihnen in Kontakt treten. Wir wissen nicht, ob sie noch leben. Nachts können wir nicht schlafen“, sagt Solmaz. „Ich glaube, nicht, dass es etwas bringt, dass wir hier protestieren, aber irgendetwas müssen wir tun.“ Sie wollen Aufmerksamkeit auf die Proteste lenken, die die Mullah-Regierung versucht, im Keim zu ersticken.

Eine Demonstrantin ließ sich am Dienstag bei einer Kundgebung vor dem Fußballmuseum die Haare abschneiden. Es ist ein Zeichen des Protests, der Protestierenden im Iran, die nach dem Tod von Mahsa Amini gegen das Regime protestieren. © Nahid Farshi
Eine junge Frau tut das am Dienstagabend eindrücklich und lässt sich ihre Haare abschneiden. Dabei hält sie ein Schild, auf dem auf Kurdisch steht: „Frauen, Leben, Freiheit“. Auch im Iran schneiden Frauen aus Protest ihre Haare ab. „Das ist eine altpersische Tradition, die in Vergessenheit geraten ist“, erklärt Nahid Farshi.
Haareschneiden als Symbol von Trauer und Kampf
Sie kennt zwei Herleitungen: Zum einen als Symbol der Trauer – Frauen hätten früher aus Trauer die Haare abgeschnitten, wenn sie ihren Geliebten verloren hatten. „Jetzt schneiden sie sich die Haare für alle Frauen ab, die ihr Leben verloren haben und seit Jahrzehnten unterdrückt werden“, sagt die Dortmunderin.
Zum anderen sei das Haareabschneiden ein Symbol des Kampfes – in einer altpersischen Geschichte sei von besonders mutigen und kämpferischen Frauen die Rede, die sich die Haare abschneiden.

Kurdische Frauen schwenken Kopftücher, während sie Bilder von Mahsa Amini in die Höhe halten. Sie war von der Sittenpolizei wegen ihres "unislamischen Outfits" festgenommen worden. Was genau mit Amini nach ihrer Festnahme geschah, ist unklar, jedenfalls fiel sie ins Koma und starb am Freitag (16.9.). © picture alliance/dpa
„In den letzten Jahrzehnten hat Haareschneiden jedoch eine negative Bedeutung bekommen. Man sagt, diese Frauen sind frech und ungehorsam“, erklärt Nahid Farshi.
Der Ungehorsam der Frauen ist wesentlicher Bestandteil des Protests. Gemeinsam nehmen sie im öffentlichen Raum ihre Kopftücher ab. Dass junge Frauen ihre Kopftücher abnehmen und öffentlich verbrennen, habe es zwar früher auch schon vereinzelt gegeben. „Aber nicht in dieser Masse“, sagt Nahid Farshi. Zudem seien diesmal alle Bevölkerungsgruppen auf den Straßen. Auch ältere Frauen würden sich beteiligen.
„Frauen, Leben, Freiheit“ skandieren Menschen im Iran
Das sei ebenso neu wie die Rufe der Demonstrierenden: „Frauen, Leben, Freiheit“, skandieren sie. „Das gehört alles zusammen. Frauenrechte sind Menschenrechte. Das Kopftuch ist ein Symbol für die Unterdrückung der Menschen durch das Regime“, sagt Nahid Farshi. Ein Manager einer iranischen Modefirma hat gepostet, man werde künftig keine Kopftücher mehr herstellen.

Nur wenige Aufnahmen dringen aus dem islamischen Land ins Ausland. Die Regierung hat das Internet abgestellt. © picture alliance/dpa/AP
Nahid Farshi ist optimistisch, dass diesmal der Wechsel gelingen kann. Sie sagt aber auch: „Ich mache mir nichts vor. Es wird schwierig. Andere Länder üben zu wenig politischen Druck aus. Finanzielle Interessen gehen immer vor.“
Bislang hätten die Sanktionen des Westens überwiegend die Bevölkerung getroffen. „Die Regierung hat alle Häfen und Flughäfen in ihrer Hand. Der Schwarzmarkt läuft weiter und sie verdienen weiter“, sagt die 59-jährige Dortmunderin. Und das Regime werde weiter schießen, um sich an der Macht zu halten. Experten erwarten, dass Revolutionsgarden und Polizei noch brutaler gegen Protestierende vorgehen werden.
„Ich bin immer in Sorge, dass alle gesund bleiben“, sagt Nahid Farshi. Aber für sie ist der Protest alternativlos. Noch einmal sagt sie: „Das alles ist nicht mehr zu stoppen.“
Als gebürtiger Dortmunder bin ich großer Fan der ehrlich-direkten Ruhrpott-Mentalität. Nach journalistischen Ausflügen nach München und Berlin seit 2021 Redakteur in der Dortmunder Stadtredaktion.
