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MTU: Wie sehbehinderte Menschen in Dortmund Brustkrebs erkennen
Brustkrebsvorsorge
Blinde Frauen sind wegen ihres besonderen Fingerspitzengefühls gute Tastuntersucherinnen. Sie können auch kleine Knoten ertasten. Drei Praxen bieten in Dortmund die Untersuchung an.
In Deutschland sterben laut dem Robert-Koch-Institut 18.000 Frauen im Jahr an Brustkrebs. Dabei ist der Tumor selbst oftmals nicht tödlich, es ist seine Streuung in den Körper. Um Brustkrebs möglichst früh zu erkennen, gibt es für Frauen im Alter von 50 bis 69 Jahren das Mammografie-Screening.
Doch was können Frauen darüber hinaus tun? Eine Medizinisch-Taktile-Untersucherin (oder auch: Medizinische Tastuntersucherin, MTU) könnte helfen. Doch was macht eine MTU genau und wie fühlt sich das als Patientin an? Ein Selbsttest.
Sehbehinderte Menschen ertasten kleinste Veränderungen
Sabine Linde (57) sieht auf dem linken Auge 1 Prozent, auf dem rechten Auge hat sie 30 Prozent Sehkraft. Als sie die Diagnose „Netzhautablösung“ bekam, stellte sich nicht nur ihr privater Alltag auf den Kopf, auch beruflich musste sich die Duisburgerin umorientieren. „Da kannst du mit Mitte 50 entweder den Kopf in den Sand stecken oder dich durchboxen“, sagt Linde. Denn ihren Job als Hygienefachkraft im Krankenhaus konnte sie nicht weiter ausführen.
Sabine Linde boxt sich durch: Auf einer Messe für sehbehinderte Menschen lernt sie die Initiative Discovering Hands kennen, die seit 2007 blinde und sehbehinderte Frauen zur Medizinisch-Taktilen-Untersucherin ausbildet.
Der außergewöhnliche Tastsinn blinder und sehbehinderter Frauen wird während des neun Monate langen Trainings zur MTU geschult. So können MTU kleinste Veränderungen der Brust ertasten, die nur 0,5 Zentimeter groß sind, während ungeübte Frauen an sich selbst oftmals nur 1,5 Zentimeter, also große Knoten erfühlen können.
Das lernt eine MTU in ihrer Ausbildung
Für ein halbes Jahr lebt Sabine Linde in Berlin und lernt dort, wie sich die Oberfläche von Tumoren anfühlt – glatt oder rau – und dass manche Brustkrebserkrankungen die Brust heiß werden lassen können.
Das Kleinste, was Sabine Linde ertastet hat, seit sie seit 2016 bei Discovering Hands arbeitet, ist „eine drei Millimeter große Verkalkung“. Als sie das erzählt, fühle ich mich vollkommen sicher in ihren Händen.
Vor der Untersuchung klärt Sabine Linde wichtige Fragen: Gibt es Frauen in der Familie, die Brustkrebs haben oder hatten? Bin ich Raucherin oder Nichtraucherin, Sportskanone oder Couch-Potato? Die wichtigste Frage: Wie ich mich selbst in der Vergangenheit abgetastet habe. Die ehrliche Antwort: halbherzig, zu kurz und zwischen Tür und Duschvorhang.
Und genau deswegen bin ich hier. Während Frauenärzte oft nur ein paar Minuten für das Abtasten haben, kann sich Sabine Linde mehr Zeit nehmen. Die sogenannte Taktilografie dauert circa 45 Minuten – je nach Körbchengröße. „Wenn ich H-Körbchen untersuche, dauert es länger“, sagt Sabine Linde, die mein Dekolleté mit rot-weiß-schwarzen Klebestreifen versieht.

Die Klebestreifen helfen Sabine Linde dabei, die Brust in vier Bereiche aufzuteilen. © Frederike Schneider
Die Klebestreifen teilen die Brust in vier Bereiche ein und die MTU kann sich durch das entstandene Koordinatensystem Quadratzentimeter für Quadratzentimeter vorantasten. „Es hilft, damit ich mich nicht auf der Brust verlaufe“, sagt Sabine Linde, deren Finger Discovering Hands ausgemessen hat, um einen weiteren Anhaltspunkt zur Orientierung zu geben.

Die Klebestreifen dienen der MTU als Orientierungshilfe. MTU, die ein wenig sehen können, orientieren sich an den starken Kontrasten: schwarz und weiß. Alle 10 Zentimeter steht ein schwarzer Punkt. Die blinden MTU ertasten die Blindenschrift auf den einzelnen Quadraten und können so in dem entstandenen Koordinatensystem den Ort eines Knotens benennen. © Frederike Schneider
Während ich sitze, tastet Sabine Linde sich durch die verschiedenen Gewebetiefen. Dabei ist sie sehr sorgfältig und tastet jeden Quadratzentimeter genaustens ab. Weh tut das nicht.
Im Liegen würde das Abtasten nicht so gut funktionieren. Da „wackelt mal was weg“, sagt Sabine Linde und lacht. Nach einer Dreiviertelstunde steht fest: Es ist zum Glück alles unauffällig – und Sabine Linde kann ich nichts vormachen. „Ganz so regelmäßig gehen Sie aber nicht zum Boxen, oder?“, fragt sie, als sie den Bereich zwischen Brust und Achsel abtastet. Erwischt.
Die Ärztekammer Nordrhein nimmt angehenden MTU die Prüfung ab
Dr. Susanne Scholle arbeitet seit 2015 mit Discovering Hands zusammen. In ihrer Praxis arbeitet Sabine Linde als Urlaubsvertreterin. Scholle sieht die Medizinisch-Taktile-Untersuchung als „zusätzliches Angebot zur Mammografie“. Denn: Das Bild, das bei einer Mammografie entsteht, ergänze das Ergebnis der MTU.
Nur so könne Brustkrebs auch bei jungen Frauen schnell festgestellt werden. „Es kommt selten vor, aber es ist ja nicht nichts, was es nicht gibt“, sagt Susanne Scholle. Die jüngste Frau, bei der sie Brustkrebs entdeckt hat, sei 23 Jahre alt gewesen. Scholle ist vor allem von Discovering Hands überzeugt, weil die Ärztekammer Nordrhein angehenden Tastuntersucherinnen die Prüfungen abnimmt.
Überzeugt hat mich vor allem die Gründlichkeit von Sabine Linde. Noch nie hat mich jemand Zentimeter für Zentimeter untersucht. Und noch nie hat sich jemand so viel Zeit für meine Untersuchung genommen. Die MTU – eine Vorsorgeuntersuchung, die ich allen Frauen empfehle.
Tipps, worauf Frauen beim Brustabtasten achten sollten
Sabine Linde gibt Tipps, worauf Frauen beim Abtasten ihres Busens achten sollten:
1. Beim Abtasten vor dem Spiegel auch auf Verfärbungen der Brust und mögliche Verformungen (wie Dellen) achten.
2. Den Bereich unter der Brustwarze nicht vergessen.
3. Auch im Liegen die Brust abtasten.
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In Dortmund gibt es drei Frauenarztpraxen, die mit Discovering Hands kooperieren: - Die Praxis von Dr. med. Susanne Scholle in der Tannenstraße 3 in Hombruch, die die Autorin besucht hat.
- Die Gemeinschaftspraxis Dres. Löhr, Glöckler, Geisel & Theiß im Rosental 1 in der City.
- Die Fachärztin für Frauenheilkunde und Geburtshilfe Christine Bülow in der Heimbrügge 3 in Mengede.
Die Kosten für eine MTU betragen 46,50 Euro. Bisher übernehmen 26 gesetzliche Krankenkassen die Kosten der Untersuchung. Auf der Internetseite www.discovering-hands.de/partner/krankenkassen steht, welche Krankenkassen die Untersuchung bezahlen.
Um eine Untersuchung bei einer MTU wahrnehmen zu können, ist es nicht nötig, die Frauenarzt-Praxis zu wechseln.
Einen männlichen Tastuntersucher gibt es, laut Sabine Linde, bisher nicht bei Discovering Hands.
Freddy Schneider, Jahrgang 1993, Dortmunderin. Gelernte Medienkauffrau Digital/Print und Redakteurin. Seit 2012 arbeitet sie bei den Ruhr Nachrichten.
