Er sieht Dortmund mit anderen Augen. „Guck mal, ein Marmeladendeckel“, sagt Benjamin Fritzsch und blickt aufs Wurzelwerk eines Baums in der Heinrichstraße. Ein kurzes Klick - und der Deckel hängt an seinen magnetischen Besen. „Was haben wir denn da?“, fragt er sich und bückt sich zu einem silbernen Fetzen neben dem Reifen seines VW Caddy herab. Ein Stück Aluminium wandert in die Mittelkonsole. „Du musst dein Briefkasten-Schild umdrehen“, rät er. Denn jedes Fitzelchen, das in seinem Postkasten mit der Aufschrift „Werbung ja bitte“ gesteckt wird, landet im Altpapier. Und das bringt 40 Euro. Je Tonne. Aber jede Tonne beginnt mit dem ersten Blatt.
„Zum Bäcker gehe ich nur mit einer Extra-Tasche, mir könnten ja Metall oder Papier begegnen“, sagt der 42-Jährige. Natürlich ist er nicht irgendein x-beliebiger Sportler, sondern mutmaßlich der erfolgreichste aktive Leichtathlet der Stadt. Aber dazu später mehr. Denn was Benjamin Fritzsch wirklich in seinem Läufer-Leben bewegt, ist das Thema Nachhaltigkeit. Und wenn der stellvertretende Vorsitzende des SuS Phönix Dortmund 09 Müll auf Dortmunds Straßen sieht, sieht er vor allem eins: Geld für seinen Verein.
Mehr als 10.000 Euro - exakt 10.525,74 Euro - hat der Verein in den letzten zwölf Monaten durch Recycling und Verkäufe erwirtschaftet. Und oft lag das Geld auf der Straße: 542 Euro haben gesammelte Metalle gebracht, gespendete Paletten erlösten 321 Euro. Mit dem vereinseigenen Caddy war Benjamin Fritzsch seit Anfang 2022 mehr als 15.000 Kilometer unterwegs, um zum Beispiel Altpapier zu sammeln. Das allein brachte in den letzten zwölf Monaten 2860 Euro ein. Gespendete Waren oder Bücher aus Haushaltauflösungen schlugen mit 3300 Euro zu Buche.

Geld, das in die Vereinsarbeit fließt: So wurden zum Beispiel die Übungsleiterentgelte auf Mindestlohn-Niveau, also auf 12 Euro die Stunde, angehoben. Die Ausrichtung auf Nachhaltigkeit erfährt Anerkennung: Im vergangenen Jahr wurde der SuS Phönix mehrmals ausgezeichnet.
Apropos Auszeichnung: Seine persönlichen Auszeichnungen bewahrt Benjamin Fritzsch auch fein säuberlich auf: Eingetütet in Gefrierbeuteln liegen Dutzende von Medaillen in seiner Genossenschaftswohnung in der Nähe des Kleinen Borsigplatzes. Es sind die glänzenden Früchte einer langen Sportkarriere, die aber -natürlich - bei Benjamin Fritzsch in anderen Bahnen verläuft als bei anderen Sportlern. Aktuell ist er amtierender Deutscher Rekordhalter im 1500-Meter-Lauf in der Halle und im Marathon in der Wettkampfklasse, die der Behindertensportverband für Epileptiker vorsieht. Von 2019 bis 2022 wurde er elfmal in Folge Deutscher Meister.
Aktuell tritt er beim 100 Meter-Lauf über den 1500-Meter-Lauf bis zum Gehen an - demnächst am 24. Juni in Singen bei der Internationalen Deutschen Parasport-Meisterschaft. Seine Leichtathletik-Karriere begann er als Zwölfjähriger, als er auf Initiative einer Lehrerin bei der Stadtmeisterschaft in Bielefeld antrat: Die 100 Meter schaffte er in 13,1 Sekunden - „bis jetzt meine Bestzeit“, sagt er.

Danach war er bei vielen Veranstaltungen des Deutschen Leichtathletik Verbandes und des Behindertensportverbandes erfolgreich. In 15 Disziplinen ist er schon angetreten und hat selbst den Rennsteig-Lauf, mit 73 Kilometern ein sogenannter Ultra-Marathon, absolviert. Noch heute hat er mit 59 Kilo auf 1,83 Meter eine durchtrainierte Mittelstreckenläufer-Statur. Als Behindertensportler tritt er an, weil er an Epilepsie leidet, nachdem er als Zweijähriger mit einem Krankenhauskeim infiziert wurde. Lange war er anfallsfrei, im letzten Jahr hatte er zwei Anfälle.
Benjamin Fritzsch ist im November 2017 von Bielefeld in die Dortmunder Nordstadt gezogen - und hatte neben der Nachhaltigkeit den SuS Phoenix im Gepäck. Natürlich kein normaler Verein: Die Spiel- und Sportgemeinschaft war 1934 von den Nazis „gleichgeschaltet“ worden und 2010 wiedergegründet worden. Nun ist sie ein Dortmunder Verein - wenn auch nur mit 17 Mitgliedern.
Hier in Dortmund kann Benjamin Fritzsch vier Mal die Woche trainieren. „Hier bekomme ich eine Wertschätzung für meinen Sport, die ich in keiner anderen Stadt erhalten würde. Da ist Dortmund wirklich vorbildlich“ sagt er. Er habe in seinem Sportler-Leben schon so viele Talente gesehen, die einfach ihre Chance nicht bekommen haben, „weil sie falsch gewohnt haben – oder die Eltern sie nicht andauernd fahren konnten“, erinnert er sich.
Er habe sich damals gegen Leverkusen und für Dortmund entschieden - auch weil die Stadt die Tatsache, dass er seit 2010 ausgebildeter Vereinsmanager ist, mit einer besonderen Jahrespauschale an den SuS in Höhe von 1200 Euro jährlich honoriert. Denn Benjamin Fritzsch hat wenig mehr als seinen Sport und seinen Verein: „Ich habe vorher als selbstständiger Event-Manager gearbeitet“, danach als Pizza-Bote, Nachtportier und als Organ-Kurier. Seine voraussichtliche Rente betrage maximal 50 Euro. derzeit lebt er von Sozialhilfe.
Und von dem Engagement in vielen Vereinen und Vereinigungen. „Ich bin eher so der Genossenschaftstyp“, sagt er. Seine Rücklagen hat er in Anteilen angelegt. Wenn sich - wie am Tag unseres Gesprächs - Kinder oder Teenager anmelden, steht er auch als Trainer an der Bahn. Künftig will er sich gern öfter als Kampfrichter engagieren wie zuletzt bei den Ruhr Games.

Unvergessen seine Erlebnisse, als er 2009 als Helfer bei der Leichtathletik-WM in Berlin dabei war. Benjamin Fritzsch hatte viel mit dem jamaikanischen Team um Sprint-Legende Usain Bolt zu tun, begleitete es auf Busfahrten zwischen Hotel, Trainingsstätte und Stadion. „Nach der Rückfahrt aus dem Stadion entdeckte ich plötzlich zwischen den Sitzen eine Goldmedaille – es war die von Usain Bolt für 200 Meter Sprint.“ Bolt lief die Strecke in 19,19 Sekunden - eine Fabel-Zeit, die heute immer noch Rekord ist. Natürlich hat Benjamin Fritzsch sie ihm zurückgebracht - wie hat Bolt reagiert? „Er hat gestrahlt, als ich sie ihm zurückgegeben habe und hat mir dafür seine Teilnehmermedaille, die sogenannte Commemorative Medal geschenkt“, erinnert sich Fritzsch und kramt die grau-silber glänzende Medaille aus einer seiner Tiefkühl-Tüten.
Danach holt Benjamin Fritzsch zu seinem nächsten durchsichtigen Manöver aus: Aus Spenden und Haushaltsauflösungen hat er viele CDs gespendet bekommen. Das Polycarbonat der Scheiben macht sie wertvoll. „5 Cent pro Kilo, aber 50 Kilo Mindestabnahme“, weiß der Athlet - so wie er eigentlich alle Wertstoff-Preise und -Abnehmer im Kopf hat. Im Keller lagern Hunderte von CDs - jetzt fein säuberlich getrennt in Scheiben und Hüllen.
Die Hüllen bringt er zum Wertstoffhof in Huckarde. Die grünen Tüten, die er meist nutzt, zeichnen ihn als Cleankeeper und Abfallpaten der EDG aus. Er sammelt Müll in der Nordstadt auf, dafür ist das Abladen kostenlos. Der Recyclinghof-Mitarbeiter ist zuversichtlich, das Material einer Wiederverwertung zuführen zu können - und lobt Benjamin Fritzsch: „Keiner sammelt so sauber wie er.“ 1600 Liter an CD-Hüllen liefert er in zwei Tagen an.

Eins seiner Herzensprojekte sind die Bücherschränke in Dortmund. Viele fährt er regelmäßig an, sortiert vergammelte Bücher aus - „schau mal, die ,Effi Briest ist ja ganz vergammelt“ - und neue ein. Als er zum Bücherschrank in die Heinrichstraße fährt, sieht der Phönix-Vorstand sich um und sagt: „Schau mal, wie sauber es hier ist. Da sieht’s in der Nordstadt anders aus. Aber mich stört das weniger. Beim Müll sehe ich in der Nordstadt eher das Potenzial.“
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