Ein paar Seiten sind noch frei in dem Schulheft. Die übrigen sind beklebt mit Zeitungsausschnitten. Meldungen über Verkehrsunfälle aus NRW - darunter mehr als 20 mit tödlichem Ausgang. Anke Ulke hat sich besonders auf junge Opfer konzentriert. Menschen, die zu Fuß oder mit dem Rad unterwegs waren, als ihr Leben abrupt endete.
2022 hatte die Dortmunderin, die in Barop lebt, mit der Sammlung begonnen. Um die Folgen einer aus ihrer Sicht völlig verfehlten Verkehrspolitik in Deutschland zu dokumentieren. Nicht zufällig wählte sie ein Schulheft. Anke Ulke arbeitet als Lehrerin an einer Hauptschule. Die 60-Jährige ist freiberuflich auch als Stimmtrainerin und Hörfunkautorin tätig. Beruflich, sagt sie scherzhaft über sich, sei sie eine „Besserwisserin“.
Mehr Platz für Radfahrer
Seit wann sie sich intensiv mit Sicherheit im Straßenverkehr und Verkehrspolitik beschäftigt, weiß sie nicht mehr. Aber auf jeden Fall seit einigen Jahren. Sie sagt über Volker Wissing: „Bei einem Verkehrsminister von der FDP kann nichts dabei rumkommen.“ Deutschland nehme knapp 3000 Verkehrstote im Jahr einfach hin. Dabei gebe es doch Lösungen, um viele dieser Leben zu retten, ist Anke Ulke überzeugt. „Wir müssen massiv etwas verändern.“

Sie fordert mehr gegenseitige Rücksichtnahme im Straßenverkehr - insbesondere der Autofahrer gegenüber schwächeren Verkehrsteilnehmern. Aber auch viel schärfere Geschwindigkeitsvorgaben und mehr Platz auf den Straßen für Fußgänger und Radfahrer.
Anke Ulke nimmt seit Jahren eine größer werdende Rücksichtslosigkeit im Straßenverkehr wahr. „Auch vonseiten der Radfahrer“, wie sie betont. Und sie sagt, dass der Verkehr „immer mehr geworden ist“. Sie spricht von einem „permanenten Gegeneinander“, das für vulnerable Gruppen tödlich enden kann. „Das treibt mich um“, sagt die Baroperin.
Tempo 30 auf der Hohen Straße
Besonders hat sie sich auf den motorisierten Verkehr eingeschossen. Anke Ulke beklagt eine „absolute Vormachtstellung des Pkw-Verkehrs“. Sie findet es „abartig“, dass „alle lernen, dass wir Angst vor Autos haben müssen“. Autofahrer sollten, wenn es nach ihr geht, längst nicht so schnell unterwegs sein dürfen wie aktuell erlaubt. „Tempo 30 ist viel zu schnell“, sagt die Lehrerin.
Dabei bezieht sie sich beispielsweise auf Wohngebiete. Mehr als 20 Kilometer pro Stunde sollten da nicht erlaubt sein, meint sie. Und in der Nähe von Einrichtungen wie Schulen, Kitas und Krankenhäusern, wo heute in der Regel Tempo 30 ist, solle nur Schritttempo erlaubt sein.
Auf der Hohen Straße würde Anke Ulke Tempo 30 einrichten und jeweils eine Spur pro Richtung zusätzlich für den Radverkehr sperren, sodass Radfahrer dort parallel mit unterschiedlicher Geschwindigkeit fahren könnten. „Man muss den Autofahrern das Leben schwer machen“, glaubt sie. Nur so könne man Anreize setzen, um den Autoverkehr zu reduzieren. Für weniger Verkehrstote, Lärm und Abgase.
Kein Auto seit 15 Jahren
Anke Ulke ist ihr Leben lang passionierte Radfahrerin. Ein Auto besitzt sie seit 15 Jahren nicht mehr. Wenn sie nicht Fahrrad fährt, nutzt sie öffentliche Verkehrsmittel. Aber zuvorderst das Rad. Viermal pro Woche fahre sie damit zur Arbeit. „Dreimal acht Kilometer und einmal 13 Kilometer jeweils für einen Weg.“ Lange Strecken machten ihr nichts aus. Und auch kein Regen. „Ich fahre defensiv, aufmerksam und bremsbereit. Das sind die Sachen, die Leben retten.“

Bloß vermisst sie diese Grundsätze bei vielen anderen Verkehrsteilnehmern. Vor sechs oder sieben Jahren sei sie auf der Straße, wo sie wohnt, von einem Autofahrer angefahren worden. Er habe sie auf dem Rad überholt und dabei mit dem Seitenspiegel ihren Lenker touchiert. Sie sei seitlich gestürzt, habe sich den Arm gebrochen und am Kopf verletzt. Mehrere Tage habe sie im Krankenhaus verbracht. Und der Verursacher habe sich nicht einmal per Kärtchen entschuldigt.
Der symbolische Ellenbogen
Mittlerweile fährt Anke Ulke auf dem Fahrrad den symbolischen Ellenbogen aus. Sie hat auf ihrem Gepäckträger einen Zweig angebunden, der seitlich einen Meter herausragt. An dem Zweig baumelt Flatterband. „Ich habe mir einen Abstandshalter gebastelt“, erklärt sie. Damit Autofahrer, die sie überholen, nicht so nah an ihr vorbeifahren. „Ich könne nicht mehr auffallen, wenn ich einen Panzer fahren würde“, sagt sie und lacht.
Sie habe lange überlegt, ob sie das machen solle. Sie befürchtete, dass „ich mir doof vorkomme“. Aber die Bedenken hat sie über Bord geworfen. Manchmal werde sie im Straßenverkehr wegen des Zweigs beschimpft - von Männern. Zwei Frauen hingegen hätten die Idee gelobt.
Anke Ulke stellt fest: „Der Zweig hilft, weil die Autofahrer Angst vor Kratzer im Lack haben.“ Wobei es selbst bei einer Berührung wohl keinen Kratzer geben würde, ergänzt sie.

Anke Ulke verweist auf Studien, die belegen, dass schnelles Fahren einen nicht automatisch schneller ans Ziel bringt. Das Gegenteil sei der Fall, sagt die Dortmunderin. „Mit langsamem Fahren kommt man schneller ans Ziel.“ Deshalb versteht sie nicht, warum Tempo 30 nicht massiv ausgeweitet wird. Zum Beispiel auf der Stockumer Straße. Oder auf der Baroper Bahnhofstraße. Oder auf dem Brackeler Hellweg.
Das oft genannte Gegenargument, es handele sich nicht um Unfallschwerpunkte, regt sie auf. „In Deutschland müssen offenbar immer erst Menschen sterben, damit sich verkehrspolitisch etwas minimal verändert. Menschen, die nicht Auto fahren, sind der Politik offensichtlich weniger wert“, sagt Anke Ulke.
Vorschläge für Lokalpolitik
Die Baroperin hat sich schon mehrfach an die Bezirksvertretung Hombruch gewandt. Zum Beispiel mit ihrer Forderung nach Tempo 30 auf der Baroper Bahnhofstraße. „Für Tempo 50 ist es dort viel zu eng durch die parkenden Autos“, findet sie. Doch ihr Vorschlag habe sich nicht durchgesetzt.
Für die Straße Am Spörckel habe sie eine Einbahnstraßen-Regelung ins Spiel gebracht. „Da ist es zu eng für Gegenverkehr.“ Zudem missachteten Autofahrer die Vorrangregelung, wenn ihnen Radfahrer entgegenkommen, beobachtet Anke Ulke.
Neulich habe sie gegenüber einem Lkw-Fahrer darauf bestanden, dass dieser den Rückwärtseingang einlegt, weil sie auf ihrem Fahrrad Vorrang gehabt habe. Nach einem Gespräch mit dem Mann habe man sich „friedlich getrennt“, erzählt Anke Ulke. „Er hat es eingesehen.“
Die 60-Jährige ist der Meinung, dass eine auf links gekrempelte Verkehrspolitik in Deutschland nicht nur die Statistiken der Verkehrssicherheit verbessern würde. Sie glaubt, dass die Deutschen generell gelassener werden könnten, wenn der Straßenverkehr weniger stressig und gefährlich wäre. „Die Leute müssten sich nur daran gewöhnen.“
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