Lieferando-Fahrer Gustav (31) aus Dortmund „Wie viel Geld man bekommt – das ist ein Glücksspiel“

Lieferando-Fahrer (31): „Wie viel Geld man bekommt – das ist ein Glücksspiel“
Lesezeit

Die ersten Meter Mallinckrodtstraße sind noch bequem zu fahren, aber dann wird es eng. Wo es passt, radelt Gustav Berger zwischen dem Stau und den parkenden Autos hindurch. Weithin sichtbar ist er ja für die Autofahrer, die hier minutenlang warten müssen.

Der 31-Jährige trägt die orangefarbene Lieferando-Jacke, auf dem Rücken den großen eckigen Rucksack mit viel Platz darin für Pizza, Pasta, Burger, Asia-Nudeln oder andere Gerichte. Berger ist einer von rund 80 Fahrern des Lieferdienstes Lieferando in Dortmund. Er sagt: „Wie viel Geld man am Ende des Monats bekommt, das ist ein Glücksspiel.“

„Einzigartige“ Bezahlung?

Die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) fordert vom Unternehmen einen Tarifvertrag, in dem 15 Euro Stundenlohn und andere Sicherheiten erstmals festgeschrieben würden. Lieferando kontert: Man zahle schon viel mehr als andere Lieferdienste. Mit „unbefristeter Direktanstellung, Umfang der Ausstattung und betrieblicher Mitbestimmung“ sei man „einzigartig“.

Aber: Wie funktioniert das System überhaupt? Wie setzt sich die Bezahlung zusammen, über die Berger sagt „Das Einkommen ist halt nicht sicher“?

„Wir bekommen einen Stundenlohn, das ist der Mindestlohn“, erklärt der Dortmunder: „Dazu hat Lieferando ein neues Bonussystem eingeführt.“ Das lasse sich so zusammenfassen: Je mehr „Orders“ der Fahrer schaffe, desto steiler werde er belohnt.

Pro Order: 25 Cent oder 2 Euro

Für die ersten 25 Lieferungen im Monat gebe es noch nichts extra, für Nummer 26 bis 100 dann jeweils 25 Cent, ab Nummer 101 1 Euro, ab Nummer 201 2 Euro. Klingt fair? Für Berger nicht.

„Klar, bei mehr als 201 Orders wird es wirklich lohnenswert, aber man hat nicht viel Einfluss darauf, wie viele Orders man schafft.“ Denn welcher Lieferando-Fahrer zu welchem Restaurant oder Imbiss muss, entscheidet der Algorithmus einer internen App.

„Die ist mehr oder weniger mein Arbeitgeber“, sagt der 31-Jährige, „ich kann mir das nicht aussuchen.“ Selbst wenn man aus Erfahrung schon wisse: Das wird jetzt dauern.

Wartezeiten am Wochenende

„Wenn es freitags- oder samstagabends in den Restaurants voll ist, wartet man manchmal eine halbe oder eine Dreiviertelstunde, bis die Gerichte fertig sind.“ Verlorene Zeit, denn das Bonussystem zählt nur erledigte Aufträge, notiert keine Umstände.

„Es dauert natürlich auch länger, ein Essen in einem richtigen Restaurant zuzubereiten, als wenn bei McDonald‘s einfach die fertigen Burger in die Tüte gepackt werden.“ Und dazu, so Berger, komme die Frage: Wohin muss das Essen eigentlich?

Lieferando-Fahrer auf der Bornstraße in Dortmund
Ein eigener Radweg – so wie hier auf der Bornstraße stadteinwärts ist es längst nicht überall in Dortmund. Auch zum Leidwesen von Gustav Berger und seinen Kollegen. © Althoff

Vom Phoenix-See nach Aplerbeck

Wenn es dann vom Phoenixs-See bis nach Aplerbeck gehen müsse – auch auf die Strecke zum Kunden habe man ja keinen Einfluss – werde der Schnitt weiter gesenkt. „Auch deshalb: ein Glücksspiel.“ Ganz zu schweigen von anderen Unwägbarkeiten.

Schneechaos? Unwetter? Oder auch digitale Probleme, die das System beeinträchtigten und keine neuen Aufträge herumschickten? Das merkte er im Portemonnaie, ärgert sich Berger, der sich 30 Stunden pro Woche für den Lieferdienst abstrampelt.

Teilzeitkräfte wie er hätten einfach eine geringere Chance, die oberste Stufe im Bonussystem zu erklimmen. „Und Mini-Jobber kommen da niemals hin. Man wälzt damit das unternehmerische Risiko auf uns ab.“

„System wirkt psychologisch“

„Dieses System wirkt auch psychologisch, das ist Gamification“, findet Berger. Der Anreiz, möglichst viel in möglichst geringer Zeit zu schaffen, könne zu viel Motivation sein – nicht nur finanziell.

Ähnlich wie bei anderen Smartphone-Apps werde das Belohnungszentrum eben direkt angesprochen. Der Fahrer denkt: Auftrag geschafft, super. Und wie bin ich im Vergleich zu den Kollegen? Halte ich mit? Lautet die Antwort „nein“, steige oft die Risikobereitschaft, hat man bei der Gewerkschaft NGG beobachtet. Unfälle kämen bei Lieferdienst-Fahrern recht häufig vor.

„1000 Kilometer im Monat“

Gustav Berger hingegen findet: „Ob ich 25 oder 30 km/h fahre, ob ich 2 oder 2,7 Aufträge in der Stunde schaffe – das macht doch keinen Unterschied.“ Außerdem und allem Ärger zum Trotz: Er sitze einfach gerne im Sattel.

„Ich fahre etwa 1000 Kilometer im Monat, und das lieber auf meinem eigenen Fahrrad.“ Zwar stelle Lieferando seinen Mitarbeitern Fahrräder, Rucksäcke und andere Utensilien zur Verfügung, aber so fühle er sich wohler. Zudem gebe es dann eine Verschleißpauschale. Die andererseits auch erforderlich sei. „Es gibt andauernd etwas zu reparieren.“

Unterwegs, wenn es schüttet

Die Mallinckrodtstraße hat Berger unfallfrei geschafft. Schon aus einigen Metern Entfernung erkennt er, ob ein im Stau stehendes Auto rechts genug Platz lässt oder ob er sich besser dahinter einordnet. Gleich geht es rechts in die Bornstraße, stadteinwärts, dann kurzes Stück Radwall, weiter in die östliche Innenstadt. Wohin danach? Das weiß Berger noch nicht.

Die Ziele wird er nach und nach aufs Handy bekommen. Er wird an vielen Dortmunder Restaurants halten, auch dann weiterfahren, wenn es schüttet und kübelt. Er wird das Essen zu Menschen bringen, die dann nicht in den Regen müssen. Wie viel Geld ihm das bringt – das ist noch unklar. Nur wie viel Zeit er hat, das steht schon fest.

Sozial genug

Von 12 bis 16 und von 17 bis 21 Uhr gehen seine Schichten heute. Vielleicht hängt er ein paar Minuten dran, wenn er am Schichtende lange auf eine Bestellung warten muss. Verpflichtet dazu ist er nicht.

Ein besserer Stundenlohn als anderswo in der Gastronomie, Direktanstellung, Krankenversicherung, Urlaubsanspruch – Lieferando verweist darauf, besser und sozialer zu sein als die Konkurrenz. Und auch darauf, wie gut man die „Rider“ ausstatte. Dennoch: Auch Gustav Berger streitet und streikt mit für einen Tarifvertrag. „Dann wäre das Einkommen sicher.“

Lieferando-Fahrer streiken in Dortmund: Was bedeutet das für Essens-Lieferungen?

Streik bei Lieferando in Dortmund: Gastronomen wie Emilia Cevik (23) wurden nicht informiert

„Bald ist Schluss!“: Restaurantchef kritisiert Lieferando – Konkurrenten sehen Vorteile