Dortmunds Kinder werden immer ärmer „Familien steht Wasser bis zum Hals“

Kinderarmut in Dortmund angestiegen: „Familien steht Wasser bis zum Hals“
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„Was hast du in den Ferien gemacht?“ Es ist eine unverfängliche Frage, die in der Kita des Kinderschutzbundes an der Yorkstraße aber viel zutage fördert. Denn während die einen Kinder vom Urlaub am Meer berichten, wo sie am Strand Sandburgen gebaut haben, erzählen andere, dass sie den ganzen Tag zu Hause waren. In der kleinen Wohnung, vor der Spielekonsole.

Was die Kita-Kinder in den Ferien unternommen haben, ist immer auch abhängig von den finanziellen Möglichkeiten ihrer Eltern. Martina Furlan, Geschäftsführerin des Kinderschutzbundes in Dortmund, erlebt das bei ihrer Arbeit tagtäglich. „Bestimmt 70 Prozent der Eltern, die ihre Kinder in unsere Kita bringen, sind eher arm“, sagt Furlan. Schon in diesem Alter bestimme Geld die Entwicklung der Kinder.

Die Einkommensunterschiede ließen sich schon in der Butterbrotdose beobachten. Während die einen Kinder diese prall gefüllt mit frischem Obst und Gemüse mitbringen, falle der Inhalt bei anderen Kindern deutlich geringer und weniger gesund aus.

Hohe Kinderarmut in Dortmund

Durch die Debatte über die Kindergrundsicherung ist auch das Thema Kinderarmut wieder verstärkt in den Fokus der Öffentlichkeit geraten. Kinder- und Jugendarmut ist für Dortmund ein hochrelevantes Thema. In Nordrhein-Westfalen steht die Ruhrgebiets-Stadt seit Jahren ganz weit vorne in der Liste der von Kinderarmut besonders betroffenen Städte.

30,6 Prozent der Kinder und Jugendlichen in Dortmund unter 18 Jahren lebten im Juni 2022 im sogenannten SGB II-Bezug. Das heißt, etwa jedes dritte Kind in Dortmund gilt als arm, weil seine Eltern Bürgergeld (oder vormals Hartz IV) beziehen. Deutschlandweit ist mehr als jedes fünfte Kind armutsgefährdet, stellte die Bertelsmann-Stiftung heraus. Wie eine Berechnung von der Stiftung zeigt, beträgt dieser Anteil in Dortmund seit 2006 durchgängig zwischen 28,1 und 31 Prozent.

Dortmund liegt damit in der aktuellen Betrachtung NRW-weit auf Platz 5. Höher sind die Anteile nur in Gelsenkirchen, Essen, Duisburg und Hagen, wobei Dortmund von Duisburg und Hagen nur 0,1 Prozentpunkte trennen. Die Werte stammen aus dem Factsheet der Bertelsmann-Stiftung zum Thema Kinder- und Jugendarmut 2023. Im Mai 2023 haben nach Zahlen der Bundesagentur für Arbeit circa 30.340 Kinder und Jugendliche in Bedarfsgemeinschaften gelebt, die SGB II beziehen.

Der SGB II-Bezug ist eine der beiden Armutsdefinitionen, die in der Wissenschaft anerkannt ist. Eine andere ist die „relative Einkommensarmut“. Demnach gilt als armutsgefährdet, wer weniger als 60 Prozent des Medians der Äquivalenzeinkommen in Deutschland zur Verfügung hat. Im Jahr 2021 waren das in Dortmund 24,5 Prozent der Bevölkerung.

In NRW lag in 2022 die Armutsgefährdungsquote für einen Einpersonenhaushalt bei 1.166 Euro

„Dann bleibt noch weniger Geld“

Nach dieser Definition ist Andreas Berle arm. Der 59-Jährige ist alleinerziehender Vater eines 13-jährigen Sohns, der bei ihm lebt. 915 Euro Frührente stehen ihm im Monat zur Verfügung. Mit seinem Sohn spricht er offen über das Thema Armut.

„Mein Sohn versteht, dass finanziell nicht alles geht. Es ist nicht so, dass er unbedingt die Schuhe von Nike haben muss“, aber Berle würde ihm gerne mehr ermöglichen: „Mal in den Freizeitpark oder eine Pommes essen. Das geht nicht“, sagt der Vater. „Wenn es mit der Inflation so weiter geht, wird es schwierig. Dann bleibt noch weniger Geld für anderes als den Lebensunterhalt.“

Kinderarmut sei kein eigenständiges Phänomen, sondern hat ursächlich mit der Situation der Eltern zu tun, teilt das Dortmunder Sozialamt mit: „Kinderarmut ist Elternarmut.“ Als Gründe seien Arbeitslosigkeit, vor allem Langzeitarbeitslosigkeit und die Situation von Alleinerziehenden zu benennen.

Wie die Dortmunder Bevölkerungsstatistik zeigt, leben die meisten Kinder und Jugendlichen unter 15 Jahren im Sozialbezug in den Stadtbezirken Innenstadt-Nord (57 Prozent), Scharnhorst (37 Prozent) und Mengede (35 Prozent). Am niedrigsten ist er in Aplerbeck (13,5 Prozent) und Hombruch (10,7 Prozent).

Die Dortmunder Bevölkerungsstatistik zeigt die Stadtteile, die besonders von Kinderarmut betroffen sind.
Die Dortmunder Bevölkerungsstatistik zeigt die Stadtteile, die besonders von Kinderarmut betroffen sind. © Stadt Dortmund

„Die Menschen haben große Sorge, wie sie das überhaupt noch schaffen sollen“, sagt auch Barbara Kremkau. Sie arbeitet für die Schuldnerberatung der Diakonie. Es sei logisch, dass die Krise, die Menschen am meisten treffe, die am wenigsten haben. „Wir beobachten schon seit Beginn der hohen Inflation, dass sich die Lage zuspitzt“, sagt Kremkau. Dabei geht der Schuldnerberatung die Arbeit ohnehin nicht aus.

Laut des Schuldneratlas der Creditreform waren im Jahr 2022 waren fast 61.000 Menschen in Dortmund überschuldet. Das entspricht einer Quote von 12,44 Prozent.

Kinder stellen Schuldenrisiko dar

„Das ist fast ein volles BVB-Stadion“, sagt Barbara Kremkau. Damit liegt Dortmund auf Rang 371 der 401 Kreise und kreisfreien Städte in Deutschland. Als überschuldet gelte man laut Kremkau, wenn man seine Schulden mittel- und langfristig nicht mehr abbezahlen kann.

Es gibt viele Gründe, warum Menschen sich überschulden. Schicksalsschläge, Trennungen, sagt Kremkau: „Auch Kinder stellen ein Risiko dar. Es ist einfach teuer, ein Kind großzuziehen. Immer wieder haben wir Rechnungen von Kindergeschäften vorliegen, die nicht bezahlt werden können.“

Vor allem Alleinerziehende wie Andreas Berle sind besonders armutsgefährdet. Mehr als zwei Fünftel (45,9 Prozent) der Alleinerziehenden waren von relativer Einkommensarmut betroffen. In Dortmund ist die Zahl der alleinerziehenden Haushalte in den vergangenen fünf Jahren um mehr als 5.000 auf etwa 43.000 angestiegen.

Sind Eltern im SGBII-Bezug und machen Schulden, werden die Schulden auf alle Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft aufgeteilt, das heißt, auch auf die minderjährigen Kinder. „Da stehen dann 3000 Euro bei dem fünfjährigen Max, der da mal so gar nichts für kann.“

Bis Ende 2022 mussten Minderjährige bei ihrer Volljährigkeit die Schulden mit ihrem Sparvermögen tilgen. Seitdem das Bürgergeld eingeführt worden ist, gilt das bei einem Vermögen unter 15.000 Euro, das die wenigsten Kinder in SGBII-Bezug haben dürften, nicht mehr.

Nach wie vor sei es aber so, dass man als Volljähriger aktiv werden müsse, um die Schulden der Eltern auszuschlagen. „Das muss man wissen, wenn man so einen Brief nach Hause bekommt und die Forderung ablehnen. In dem Alter sollte man damit aber eigentlich gar nicht zu tun haben“, findet Kremkau.

Armut und Scham

Aber nicht immer geht Armut mit Schulden einher, oftmals fehlt einfach das Geld. Kinderschutzbund-Leiterin Martina Furlan erzählt von einer Dortmunder Familie mit vier Kindern, die an der Supermarkt-Kasse den Sack Kartoffeln zurückbringen musste. Dieser war anders ausgezeichnet, als in der Kasse eingespeichert und sollte mehr kosten. Die Familie habe ihr berichtet, wie peinlich ihr dieser Moment gewesen sei, sagt Furlan: „Armut hat viel mit Scham zu tun.“

Das stellt auch Monika Bornemann fest. Sie ist Schulsozialarbeiterin an der Ricarda-Huch-Realschule im Kaiserviertel. Die 640 Schülerinnen und Schüler haben Wurzeln in verschiedenen Ländern und unterschiedliche soziale Hintergründe.

Die Kinder hätten unterschiedliche Strategien, mit Armut umzugehen. „Manche sagen in der Klasse ganz offen: Ich bin Bildungs- und Teilhabe berechtigt. Sie versuchen das dann eher offen zu überspielen. Andere Kinder ziehen sich aus Scham eher zurück.“

Kleidung als Indikator

Armut ist für Bornemann nicht nur an Materiellem festzumachen. Oftmals zeige sich Armut zunächst an der Kleidung. „Es fällt auf, wenn Jugendliche lange dieselbe Kleidung tragen oder Löcher darin sind. Und Kinder bei 5 Grad immer noch mit der dünnen Jacke herumlaufen.“

Es ließe sich auch an fehlenden Schulmaterialien festmachen. Zwar seien dafür Gelder im Bildungs- und Teilhabegesetz (BuT) vorgesehen, aber nicht immer käme das Geld bei den Kindern an, sagt Bornemann. Schulmaterialien würden dann trotzdem fehlen.

Für den persönlichen Schulbedarf sieht das Bildungs- und Teilhabepaket in NRW seit dem 1. Januar 2023 pro Kind und Schuljahr insgesamt 174 Euro (116 Euro für das 1. Schulhalbjahr und 58 Euro für das 2. Schulhalbjahr) vor. Darunter fallen etwa Schreib-, Rechen- und Zeichenmaterialien, Sportbekleidung und Schulranzen.

„Geringeres Selbstwertgefühl“

„120 Euro für die Einschulung reichen nicht mal für die Nebenutensilien. Schulranzen gibt es fast nur noch im Set mit Turnbeutel und Etui“, sagt Bernd Krispin, Gründer der Stiftung Kinderglück. Eine vernünftige Ausstattung bekomme man im günstigsten Fall für 180 Euro, sagt Krispin. Die Stiftung Kinderglück habe deshalb das Schulranzenprojekt ins Leben gerufen.

Sozial benachteiligte Kinder werden dabei mit Schulranzen ausgestattet, ohne, dass sie wissen, dass die Ranzen gespendet worden sind. „Diese Handhabung ist der Stiftung Kinderglück ein großes Anliegen. Kinder, die ständig mit ihrer eigenen Armut konfrontiert werden, entwickeln ein geringeres Selbstwertgefühl und tragen dieses negative Gefühl bis in ihr Erwachsenenalter“, ist auf der Webseite der Stiftung zu lesen.

Bernd Krispin stattet mit seiner Stiftung Schulkinder mit Ranzen aus.
Bernd Krispin stattet mit seiner Stiftung Schulkinder mit Ranzen aus. © Kinderglück

„Wenn du am ersten Tag keinen Schulranzen hast, dann hast du vom ersten Tag an verloren. Dann wirst du gehänselt und es ist ganz schnell vorbei, dass man motiviert in die Schule geht“, sagt Krispin.

Kinderarmut habe es auch vor 17 Jahren schon gegeben, sonst hätte sich die Stiftung Kinderglück nicht gegründet, sagt Krispin. Aber die Lage habe sich aus seiner Sicht in den vergangenen drei oder vier Jahren „dramatisch verändert“. Als Gründe nennt er die Corona-Pandemie und den russischen Angriff auf die Ukraine. Familien, denen es schlecht ging, gehe es jetzt noch viel, viel schlechter, sagt Krispin.

Ein Problem sei, dass es immer mehr Familien gebe, die nicht den eigentlichen Förderkriterien entsprechen, sich das Leben aber nicht mehr leisten könnten. Krispin nennt das Beispiel einer Familie mit drei Kindern, bei der Vater und Mutter arbeiten. Zusammen haben sie ein Nettoeinkommen von 2000 Euro. Davon musst du fünf Menschen versorgen, die Wohnung braucht eine gewisse Größe, ein Auto braucht man in der Regel auch. „An das Wort Urlaub denkt da keiner. Die müssen schon gucken, dass die Waschmaschine nicht kaputtgeht. Wenn dann eine Klassenfahrt ansteht, wird es schwierig“, sagt Krispin.

„Kinder waren noch nie im Zoo“

Das erlebt auch die Sozialarbeiterin Monika Bornemann. „Klassenfahrten sind immens teuer geworden. 350 bis 400 Euro muss man meist aufbringen.“ Für Kinder und Jugendliche, die BuT-berechtigt sind, werden die Kosten übernommen. „Aber es gibt genug Familien, die knapp keine Förderung bekommen und trotzdem arm sind. Die Kinder fahren dann teilweise nicht mit.“

Armut spiegle sich vor allem aber in der soziokulturellen Teilhabe der Kinder wider, sagt die Sozialarbeiterin. Bei sozial benachteiligten Kindern sei aus ihrer Erfahrung auch eine höhere Mediennutzung festzustellen. „Im Unterricht stellen wir Konzentrationsschwierigkeiten fest, die auch darauf zurückzuführen sein könnten“, sagt Bornemann. Es gebe zudem Kinder, die noch nie im Westfalenpark oder im Zoo waren. „Die Kinder haben oftmals niemanden, der sie dahin führt.“

Eltern unter Generalverdacht

„Eltern erleben, was ihren Kindern für ein Nachteil durch die Armut entsteht und versuchen oft, den unter großen Entbehrungen zu kompensieren“, stellt Martina Furlan aber auch fest. Eine alleinerziehende Mutter, die sie kenne, spare sich mühsam alles zusammen, damit sie mit ihrer 7-jährigen Tochter wenigstens eine Woche in den Urlaub fahren könne.

„In der Öffentlichkeit hört man wieder, dass man das Geld bloß nicht den Eltern geben dürfe. Sie würden es nur verrauchen und versaufen“, so Furlan. Sie sagt: Klar, solche Familien gebe es auch. Der Großteil, der Eltern, die sie im Alltag erlebe, würde dies aber nicht tun. „Diesen Generalverdacht finde ich nicht gerechtfertigt.“

In NRW lebte im Jahr 2022 jede vierte minderjährige Person (25,9 Prozent) in einem einkommensarmen Haushalt. Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren sind damit die Altersgruppe, die nach jungen Erwachsenen zwischen 18 und 24 Jahren (26,9 Prozent) am stärksten von Armut betroffen ist, teilt das Statistische Landesamt IT.NRW mit.

Armut mit Folgen

Die Wissenschaft hat verschiedene Folgen von Armut für das Leben von Kindern herausgearbeitet. So wirkt sie sich etwa auf die Bildung der Kinder aus, da es zu Hause deutlich seltener einen Rückzugsort oder ruhigen Ort zum Lernen gibt. Etwa ein Viertel der Familien in SGB II-Bezug haben zudem keinen Computer mit Internetzugang. Bei Familien mit gesicherten Einkommensverhältnissen liegt der Anteil bei 2,2 Prozent.

Arme Kinder sind seltener Mitglieder in einem Verein, fahren deutlich seltener in den Urlaub, können seltener etwas mit Freunden unternehmen, was Geld kostet, und laden seltener Freunde zu sich ein.

Auch bei der Gesundheit der Kinder macht sich die finanzielle Situation der Eltern laut Bertelsmann Stiftung bemerkbar. So geben finanziell gut gestellte Familien für Medikamente, Arztkosten und therapeutische Angebote für ihre Kinder rund zehnmal mehr aus als Eltern aus dem untersten, einkommensschwächsten Zehntel der Familien.

Hohe Folgekosten von Armut

Auch das Risiko von Adipositas (starkem Übergewicht), steigt, hat das Deutsche Institut für Wirtschaft (DIW) in einer Kurzexpertise zu den Folgekosten von Kinderarmut für die Diakonie festgehalten. So lagen 2016 alleine die direkten und indirekten Kosten im Zusammenhang mit Adipositas bei jährlich mehr als 60 Milliarden Euro.

Die OECD geht davon aus, dass Deutschland jährlich Folgekosten von Kinderarmut in Höhe von 3,4 Prozent des Bruttoinlandsproduktes entstehen. Das entspräche im Jahr 2022 etwa 130 Milliarden Euro.