Keine Wohnung für Kinder in Wohngebiet erlaubt Jugendhilfe-Chefin: „Es ist absurd“

Keine Wohnung für Kinder im Wohngebiet erlaubt: „Es ist absurd“
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Das Wohnhaus, das Anna Graute-Reinert gefunden hat, ist für sie ein Glücksfall. Die Geschäftsführerin der Katholischen Jugendhilfe Dortmund braucht Platz für eine neue Wohngruppe der gemeinnützigen Organisation. Sechs Kinder im Alter von sechs bis zehn Jahren sollen in das Haus ziehen, das nur rund 100 Meter von der Overberger Schule in Bergkamen liegt.

Doch die Stadt Bergkamen lehnte eine Nutzungsänderung bislang ab, was Graute- Reinert und auch Hauseigentümerin Dagmar Lehnartz (49) an der Bürokratie verzweifeln lässt. Das Kuriose: Eine Familie mit Vater, Mutter und sechs eigenen Kindern dürfte ohne Weiteres in dem Haus wohnen. Nicht aber sechs Kinder aus verschiedenen Familien mit ein bis zwei Betreuern. Das sei keine erlaubte Nutzung in einem reinen Wohngebiet, so die Stadt Bergkamen.

Wenn Kinder aus sozialen Gründen nicht in ihrer eigenen Familie bleiben können, springt die Katholische Jugendhilfe Dortmund (KJD) im Auftrag von Jugendämtern ein. Die Jugendhilfeeinrichtung, bislang ein eingetragener Verein, wurde 2024 in eine gemeinnützige Gesellschaft umgewandelt. „Wir bieten Wohnformen für Kinder, Jugendliche, Mütter, Väter, Kinder bis hin zu jungen Erwachsenen an“, erläutert Geschäftsführerin Graute-Reinert. Als sie das Wohnhaus in Bergkamen besichtigte, war sie begeistert. Im Interview äußert sie sich zu dem Projekt und zu der Absage.

Frau Greinert, wie wollen Sie das Haus nutzen?

„Die erste Idee war, eine Perspektivklärungsgruppe zu machen, im Fachjargon auch Clearingstelle genannt. Diese ist für Kinder, die in Obhut genommen, aus Gefährdungssituationen herausgenommen werden müssen. Bei denen klar ist, dass sie jetzt erst mal nicht wieder nach Hause zurückkönnen. Denen wollen wir einen Ort, einen Schutzraum, ein Zuhause bieten, um Zeit zu haben, um zu gucken: Wo geht’s hin? Ist eine Rückführung wieder möglich zu einem anderen Zeitpunkt, wenn man mit der Familie gemeinsam arbeitet, oder ist keine Rückführung möglich? Dann ist eine entsprechende Anschlusshilfe zu finden.“

Bei welchen Maßnahmen der Jugendämter kommt Ihre Hilfe zum Tragen?

„Kinder werden in Obhut genommen, wenn die Eltern ihrem Erziehungsauftrag nicht nachkommen können. Sei es, sie haben eine Alkoholerkrankung, sie sind psychisch erkrankt, sie sind nicht greifbar, weil sie weg sind, weil sie verstorben sind. Verstorben ist allerdings nicht der häufigste Grund, wie manche meinen.“

Wenn in Familien das Kindeswohl gefährdet ist, kann das Jugendamt Maßnahmen ergreifen und die betroffenen Kinder in einer Jugendhilfeeinrichtung unterbringen.
Wenn in Familien das Kindeswohl gefährdet ist, zum Beispiel durch gewalttätige Väter (Symbolfoto), kann das Jugendamt Maßnahmen ergreifen und die betroffenen Kinder in einer Jugendhilfeeinrichtung unterbringen. © picture alliance/dpa (Symbolbild)

Welche Kinder wollen Sie in diesem Haus unterbringen?

„Sechs Kinder im Alter zwischen sechs bis zehn Jahren. Wir haben ein Team von Mitarbeitenden, die sich 24/7, 365 Tage im Jahr um diese Kinder kümmern. Die Kinder haben alle ein Einzelzimmer. Dann gibt es noch gemeinsam genutzte Wohnbereiche. Und die Idee war es, unten Förderräume zu haben, sodass unsere hausinterne Psychologin Angebote machen kann.“

Was unterscheidet diese Kinder mit den Betreuerinnen und Betreuern von einer Familie, die eigene Kinder hat und in diesem Haus wohnen würde?

„Der Lebensmittelpunkt ist derselbe. Wir haben natürlich keine Eltern, also nicht immer dieselben Personen, die 24/7 hier bei den Kindern sind. Aber das ist der einzige Unterschied.“

Wie würde sich für Nachbarn bemerkbar machen, dass das eine Jugendhilfeeinrichtung ist?

„Optisch würde sich das gar nicht bemerkbar machen, weil unsere Idee ja eben die soziale Integration ist. Deshalb sollte das nicht ersichtlich sein. Die Kinder würden hier spielen, sie würden hier in die Schule gehen. Publikumsverkehr haben wir nicht, sodass sich das auch nicht verkehrsmäßig auswirkt.“

Wie lange würden diese Kinder hierbleiben?

„Wenn wir von der ursprünglichen Idee der Perspektivklärung ausgehen, dann wären es sechs Monate. Wir sind aber auch dabei zu überlegen, ein Beheimatungskonzept zu machen. Das heißt, die Kinder wohnen hier, bis sie der Wohnform entwachsen sind. Das heißt sie sind älter als zehn Jahre.“

Wie viele Anfragen nach Hilfe bekommen Sie und wie groß ist Ihr Platzbedarf?

„Wir bekommen viele Anfragen für Kinder oder Jugendliche, die untergebracht werden müssen. Wir werden auch angefragt, ob wir etwas nur für eine Nacht haben. Immobilien-Angebote gibt es kaum, weil es kaum jemand gibt wie hier in Bergkamen Dagmar Lehnartz, die ihrer Elternhaus an seine soziale Einrichtung vermieten will.“

Die Stadt Bergkamen lehnt eine Nutzungsgenehmigung ab. Was sagen Sie dazu?

„Dass sechs Kinder nicht in einem Haus in einem reinen Wohngebiet wohnen dürfen, ist absurd. In der Nähe gibt es ja schon eine andere Wohngruppe eines anderen Trägers, außerdem einen Kindergarten, eine Schule und eine Kirche. Wir werden nun mit der Hauseigentümerin und unserem Architekten beraten, wie wir weiter vorgehen.“

Anna Graute-Reinert (r.) bei einem Hausrundgang mit Eigentümerin Dagmar Lehnartz, die das Gebäude für rund 250.000 Euro passgenau für die Jugendhilfe umbauen will.
Anna Graute-Reinert (r.) bei einem Hausrundgang mit Eigentümerin Dagmar Lehnartz, die das Gebäude für rund 250.000 Euro passgenau für die Jugendhilfe umbauen will. © Stefan Milk