Junge Dortmunderin will anderen Erkrankten Mut machen

© Sarah Rauch

Junge Dortmunderin will anderen Erkrankten Mut machen

rnLeben mit der Huntington-Krankheit

Mit 13 Jahren erfährt Katrin Müller, dass sie an Huntington erkranken könnte, eine Erberkrankung, die zum Tod führt. Sie haut von Zuhause ab. Erst ihre Diagnose bringt sie wieder ins Leben zurück. Wie sie heute mit der Krankheit lebt, erklärt sie im Video.

DORTMUND

, 27.02.2018, 20:15 Uhr / Lesedauer: 6 min

Tatsächlich sind sie winzig, die Ursachen, die Katrin Müller so schwer krank machen. Defekte Zellen in ihrem Gehirn, nur bis zu 40 Mikrometer klein, hindern sie an so vielem in ihrem Alltag. Am Laufen. Am Einkaufen gehen. Am Duschen. An einer Berufsausbildung. Am Wäschewaschen. Katrin Müller kann es nicht, zumindest nicht alleine.

Und die Liste dieser Dinge wird immer länger. Manchmal klappt es nicht eine Gabel zu halten, vom Stuhl aufzustehen oder deutlich zu sprechen. Ihre Beschwerden würden von anderen falsch interpretiert, die Leute denken, sie sei betrunken. „Aber ich bin krank, nicht betrunken“, sagt die 24-Jährige.

Freunde und Familie werden zu Experten

Deswegen möchte sie an die Öffentlichkeit, in die Zeitung, ins Radio, am liebsten auch ins Fernsehen – um über ihre Huntington-Krankheit aufzuklären. „Mir hilft nicht mehr viel“, sagt sie. „Aber anderen Erkrankten kann das helfen.“ All das hält sie nicht davon ab, ihr Leben zu leben.

„Sachen abzugeben, fällt mir am schwersten. Ich möchte alles selbst machen, aber dann kann ich es doch nicht“, sagt die 24-Jährige. Es gibt gute und schlechte Tage, es gibt Hilfe von Freund Sören und von Mutter Heike. Die beiden sind inzwischen zu Experten der Krankheit geworden.

Krankheit tritt nur sehr selten bei Jugendlichen auf

„Katrin hat die juvenile Form von Huntington. Davon gibt es nur ganz, ganz wenig Fälle“, erklärt Heike Müller. „An ihrem Oberkörper hat sie die Hyperkinese, unkontrollierbare Überbewegungen, wie Zittern und Zucken“, erklärt die Mutter. „Unterhalb an den Beinen, hat sie eine Verlangsamung.“

Als Katrin Müller 19 Jahre alt ist, bricht bei ihr die Huntington-Krankheit aus. „Ich hatte das Gefühl, dass ich langsamer werde. Ich wollte gehen, aber es ging nicht“, erzählt sie. Jetzt ist sie 24 Jahre alt und geht alleine gar nicht mehr vor die Wohnungstür. Die Symptome sind schlimmer geworden. Die Bewegungsverlangsamungen und eine gewisse Steifigkeit, die Katrin in ihren Beinen hat, treten vor allem bei der juvenilen Form auf.

Die Beine sind schwer, der Oberkörper kaum zu kontrollieren

Beim Gehen lässt es sie wanken, schwerfällig und unkoordiniert wirken. Schon der Gang von der Küche ins Wohnzimmer ist anstrengend. Ihre Beine sind Pudding, sagt sie immer. Die plötzlichen Bewegungen am Oberkörper, die Katrin nicht kontrollieren kann, kamen im Dezember hinzu. „Wir waren bei Sörens Eltern, als es mir das erste Mal aufgefallen ist“, erzählt sie. Beim Abendessen krampfte ihre Hand so stark, dass sie die Gabel nicht mehr halten konnte.

Ein verändertes Gen ist die Ursache für die Huntington-Krankheit. Es führt dazu, dass in Katrins Gehirn Zellen absterben. Die Krankheit ist erblich, ihre Ursache nicht behandelbar. Häufig bricht sie im mittleren Lebensalter aus, etwa zwischen dem 35. und 45. Lebensjahr. „Katrins Vater ist an Huntington gestorben“, erzählt Heike Müller. Da ein Elternteil an Huntington erkrankt war, lag die Wahrscheinlichkeit, dass Katrin ebenfalls einmal erkranken wird, bei 50 Prozent.

Schock kam schon bei Nachricht vom kranken Vater

Das Schlimme für Katrin war aber nicht die Diagnose Huntington. Der große Schock kam viel früher. Nämlich als sie erfuhr, dass sie die Huntington-Krankheit von ihrem Vater geerbt haben könnte. Als Katrins Vater die eigene Diagnose Huntington erhielt, waren die Eltern schon geschieden.

„Ich hatte gar keinen Kontakt mehr zu meinem Vater“, erzählt Katrin. „Dann hat er mir geschrieben, dass er krank sei, dass ich das auch haben könnte und dass ich sterben könnte. Da ist eine Welt für mich zusammengebrochen.“

Mama war der Buhmann

Katrin haut von zu Hause ab, geht nicht mehr zur Schule. Mit 13 Jahren. „Sie hat mehr Zeit auf der Straße verbracht, als zu Hause“, erzählt Mutter Heike Müller. Katrin wohnt bei Freunden, übernachtet in Jugendschutzstellen. „Ich wollte nur noch weg von Mama. Mama war für mich der Buhmann.“

Für sie war ganz klar: Ihre Mutter muss von der Huntington-Erkrankung des Vaters gewusst haben, sie muss es ihr verschwiegen haben. Aber das war gar nicht der Fall. Heike Müller hatte ebenfalls keine Ahnung gehabt. Doch zu ihrer Tochter dringt das nicht mehr durch.

Eher gute Freundin als Mutter

Mit 14 Jahren weist Katrin sich selbst in die Jugendpsychiatrie ein. In diesem Sommer 2008 spricht sie zum ersten Mal wieder mit ihrer Mutter. „Ich wollte irgendwie wieder Frieden schließen“, sagt Katrin. Leicht sei das nicht gewesen. „Ich habe mich nicht mehr wie eine Mutter verhalten, ich konnte nur noch eine gute Freundin sein“, sagt Heike Müller. „Das hat besser funktioniert, als das Mutter-Tochter-Verhältnis. Da war zu viel kaputt gegangen.“

Gentest erst ab 18 Jahren möglich

Beschwerden hat sie zu der Zeit noch keine. Ein Gentest ist die einzige Möglichkeit, Gewissheit zu erhalten. Aber ohne Beschwerden und Symptome, die auf Huntington hinweisen, ist ein Gentest nicht ohne Weiteres möglich. Eine solche vorhersagende Testung ist nach dem Gendiagnostikgesetz erst ab dem 18. Lebensjahr möglich – auf den ausdrücklichen Willen des Betroffenen allein und an eine Beratung mit Psychotherapie gekoppelt.

Das ist Katrin Müller, 24.

Das ist Katrin Müller, 24. © Sarah Rauch

Katrin Müller hat sich mit 18 Jahren am Bochumer Huntington-Zentrum auf die Krankheit testen lassen. Nach dem ersten Beratungsgespräch bis zum Test musste die Familie eine Bedenkzeit von mindestens vier Wochen einhalten. „Die Bedenkzeit soll verhindern, dass Ratsuchende eine Diagnose erhalten, mit der sie nicht klar kommen“, erklärt Prof. Dr. Carsten Saft, Oberarzt an der neurologischen Klinik des St.-Josef-Hospitals in Bochum. Er ist Leiter des Huntington-Zentrums und Katrin Müllers behandelnder Arzt.

Katrins Halbschwester möchte noch keine Diagnose hören

Katrin Müller hat noch drei Halbgeschwister, Kinder des Vaters. „Die Schwester sagt ganz klar, dass sie nicht wissen möchte, ob sie betroffen ist, ob die Krankheit bei ihr ausbrechen wird“, erzählt Heike Müller. Denn die Frage ist, was hat die Diagnose für eine Konsequenz? Will man wissen, was einen in Zukunft krank machen wird? Ist die Ungewissheit besser oder das Wissen betroffen zu sein – und damit die Frage: Wann bricht die Krankheit aus?

Für Katrin Müller war das Wissen besser. Nicht nur das. Es hat ihr ganzes Leben verändert. Die Gewissheit über die Krankheit war eine Hilfe, wieder zurück ins Leben zu finden und dieses Leben wieder als lebenswert anzusehen – „weil ich danach wusste, woran ich bin“, erzählt sie.

Schuhe zubinden und sprechen gleichzeitig geht nicht mehr

Vor einem halben Jahr, im August 2017, ist die 24-Jährige in eine eigene Wohnung in Eving gezogen. Seitdem gehört auch Claudia Merlides zur Familie. Merlides und eine weitere Kollegin vom Ambulant Betreuten Wohnen der Arbeiterwohlfahrt (AWO) kommen zweimal in der Woche, um Katrin bei all dem zu helfen, was sie nicht mehr alleine schafft.

Heute hat Claudia Merlides sie auch ein bisschen geschminkt. „Ich kann nur noch Kleinigkeiten alleine machen“, erzählt Katrin. „Ich kann mich nicht mehr auf zwei Sachen gleichzeitig konzentrieren. Wenn ich mir die Schuhe zu binde und jemand gleichzeitig mit mir spricht, das klappt nicht.“

„Es wird eben nicht wieder“

Was sie noch schafft, Spülen, Aufräumen, in einer Werkstatt der AWO arbeiten, strengt sie so stark an, dass sie sich danach hinlegen und schlafen muss. In der Werkstatt der AWO wird ihr extra eine lange Mittagspause erlaubt, damit sie sich dort hinlegen und etwas schlafen kann. „Man kann nicht einfach sagen, Kopf hoch, es wird schon wieder. Es wird eben nicht wieder“, sagt Claudia Merlides.

Katrins Prognose ist ungewiss. Wie viele Jahre sie noch leben wird, weiß sie nicht. Sie erfüllt sich ihre Wünsche jetzt, sie wartet nicht. Worauf auch? Sie war mit Sören auf den Malediven, ging schnorcheln. Während sie davon erzählt, sitzt sie am Küchentisch ihrer Wohnung, hat die Hände zwischen ihren Oberschenkeln leicht eingeklemmt, damit man das Zittern und Zucken nicht so stark merkt. Das Reden fällt jetzt schwerer, sie verschluckt Buchstaben und Wörter, nuschelt dabei, antwortet nur noch in Stichworten.

Im März zieht sie mit Sören zusammen, am 29. Juli haben sie ihren vierten Jahrestag und wollen in Köln ein Liebesschloss an der Hohenzollernbrücke aufhängen. Katrin möchte noch mal nach Italien, an die ligurische Riviera, wo sie als Kind immer war, sie möchte Paris sehen – und Disneyland.


Drei Fragen an den Experten zur Huntington-Krankheit:

Die Medikamente, die Katrin Müller nimmt, lindern zwar ihre Beschwerden, zum Beispiel die Steifheit in den Beinen, aber gegen die Ursache der Krankheit helfen sie nicht. Sie können die Krankheit bisher nicht stoppen. Es gibt Studien, die Behandlungsmöglichkeiten erforschen.

Kann die Huntington-Krankheit behandelt werden?

Die Ursache der Krankheit kann derzeit nicht behandelt werden. „Huntington gehört zu den Krankheiten, bei denen man bis jetzt nur Beschwerden lindern kann“, sagt Carsten Saft, Neurologe und Leiter des Huntington-Zentrums in Bochum.

„Wir können den Krankheitsverlauf bis jetzt nicht aufhalten. Daran forschen wir intensiv. Wir können derzeit versuchen mit verschiedenen Medikamenten, die Beschwerden zu lindern, was häufig aber zu einer guten Besserung der Beschwerden führen kann.“

Zurzeit laufen weltweit Studien, die ein Mittel testen, welche die Produktion des Huntington-Proteins in den Zellen reduzieren soll und dadurch den Krankheitsverlauf beeinflussen soll. Ob das Medikament tatsächlich wirkt, kann aber noch nicht gesagt werden.

Stirbt jeder Betroffene an der Huntington-Krankheit?

„Im Mittel führt die Krankheit 15 bis 20 Jahre nach Ausbruch zum Tod. Und zwar meist durch Komplikationen, die aufgetreten sind“, sagt Carsten Saft. Diese Komplikationen können zum Beispiel Stürze und Lungenentzündungen sein, aber auch das Verschlucken von Nahrung oder Speichel.

Warum sterben im Gehirn der Erkrankten die Zellen?

Was bei der Huntington-Krankheit im Gehirn der Betroffenen passiert, ist sehr komplex. Bei Erkrankten ist der Aufbau des Huntington-Proteins innerhalb der Zellen nicht mehr korrekt. Es gibt zu viele Bausteine einer bestimmten Aminosäure.

Betroffene haben an einem ganz kleinen Abschnitt des Huntington-Proteins eine längere Kette dieser Bausteine als Gesunde – und zwar weil ein spezielles Gen, das Huntington-Gen, verändert ist. Die Anzahl der Aminosäuren ist in diesem Gen vorgegeben.

Das veränderte Gen hat also zu viele Aminosäuren als Bausteine zur Folge und das führt zu einem veränderten Huntington-Protein. „Diese Proteine verklumpen mit anderen Proteinen innerhalb der Zelle. Das Problem ist, die Zelle funktioniert dann nicht mehr richtig und stirbt irgendwann ab“, sagt Saft.

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