
© Frederike Schneider
„Illegaler“ Mieter aus Dortmund hat Tipps für Betroffene in Herten
Wohnen im Gewerbegebiet
Das Martyrium, das aktuell 174 „illegale“ Mieter im Gewerbegebiet Herten-Westerholt erleben, haben Betroffene in Dortmund-Dorstfeld schon hinter sich. Ihr Wortführer bietet Tipps und Hilfe an.
Seit Anfang November berichtet unsere Redaktion über die – laut Stadt Herten – „illegalen“ Mieter im Gewerbegebiet Westerholt. Viele wohnen dort seit Jahren oder Jahrzehnten. Unzulässigerweise, betont die Verwaltung, und fordert die Räumung aller Wohnungen.
Warnung vor falschen Hoffnungen
„Bei uns ist das alles genauso gelaufen – ich habe das alles schon hinter mir“, sagt Rainer Hartwig aus Dortmund-Dorstfeld. Der 60-Jährige hat von unserer Berichterstattung erfahren und sich gemeldet, weil er den Betroffenen zwischen Ostring und Bahngleisen mit seinen Erfahrungen und Kontakten helfen möchte. Er will Mieter und Eigentümer aber auch davor warnen, sich falsche Hoffnungen zu machen.
Vor rund zwei Jahren erhielten knapp 60 Dorstfelder die Anhörungsformulare – so wie jetzt die 174 Westerholter. Doch während die Stadt Herten von vornherein Auszugsfristen von etwa neun Monaten ansetzte und darüber hinaus Gesprächsbereitschaft signalisierte, machte die Stadt Dortmund Druck: Drei Monate gab sie den Betroffenen. Nach dem ersten Schock starteten diese eine Eilklage. Das Oberverwaltungsgericht (OVG) Münster kippte die kurze Frist, die Stadt Dortmund setzte direkt eine neue: sechs Monate.
Hartwig: Mieter sollten sich zusammentun
Die Stadt Herten hat angekündigt, keine Bürgerversammlungen zu organisieren. Stattdessen soll es Einzelfall-Beratungen geben. Rainer Hartwig hingegen rät den Mietern, sich zusammenzuschließen: „Nur so lässt sich Druck aufbauen, das mögen die Städte nicht.“ Die Dorstfelder gründeten eine Interessengemeinschaft, druckten T-Shirts und Aufkleber. Hartwig wurde der Wortführer.

Auch an der Lippestraße im Gewerbegebiet Westerholt gibt es eine Mischung aus Gewerbe und Wohnungen. © Frank Bergmannshoff
Mehr als 30 Jahre lang lebten er und Ehefrau Barbara – später mit ihrem Sohn zusammen – in einer komfortablen und günstigen Wohnung: 110 Quadratmeter mit Fußbodenheizung und elektrischen Rollläden, Garten, Party-Keller. Das Ganze in einer guten Hausgemeinschaft mit einem freundlichen Vermieter. Was die Hartwigs nicht ahnten: Baurechtlich war ihr Zuhause ein „Bürobau mit Bad“ in einem 1968 geschaffenen Gewerbegebiet, in dem Wohnen laut Satzung nur in wenigen Ausnahmefällen zulässig ist.
1968 entstand auch das Westerholter Gewerbegebiet. Im Laufe der Zeit wurden zulässige Betriebswohnungen für Firmenangehörige in unzulässige, frei vermietete Wohnungen umgewandelt. Hinzu kamen Umbauten von Büro- und Produktionsgebäuden für Wohnzwecke. Bekannt ist das im Hertener Rathaus seit Jahren, man sah darüber hinweg – bis sich Unternehmen bei der Stadt zum Beispiel über spielende Kinder beschwerten, mit Klage drohten. Zugleich monierten Mieter Lärm und Verkehr. Nun sieht sich die Stadtverwaltung unter Zugzwang. Auch in Dortmund brachte die Beschwerde eines Mieters über nächtlichen Lärm an einer Veranstaltungshalle den Stein ins Rollen. Ein Stein, aus dem eine Lawine wurde.
Die „illegalen Dorstfelder“ deckten viele Ungereimtheiten auf, zum Beispiel Genehmigungsfehler der Stadt Dortmund. Oder dass sich – so Rainer Hartwig – einige illegale Wohnungen zeitweise sogar im städtischen Eigentum befunden hätten. Wie in Westerholt kam auch in Dorstfeld die Frage auf, warum die zahlreichen Wohnungen nie aufgefallen waren. Hartwig: „Da gibt es ein Gebäude aus den 1970er-Jahren mit 13 Wohnungen – wie konnte das jemals genehmigt werden?“
Warum schaut die Stadt nur westlich des Ostrings?
Und noch eine Parallele: Die Stadt Dortmund forderte in dem Gewerbegebiet nur etwa 60 Mieter zum Auszug auf. Rund 200 Menschen in etwa 100 weiteren Wohnungen, so Hartwig, ließ sie unbehelligt. Auch in Westerholt fragen sich Betroffene: Wieso betrachtet die Stadt Herten nur den Bereich westlich des Ostrings und schaut nicht östlich?
Wie auch immer – Rainer Hartwig zieht ein ernüchterndes Fazit: „All diese Dinge haben vor Gericht niemanden interessiert. Es ging immer nur darum, dass Wohnen im Gewerbegebiet nicht zulässig ist.“
„Haben im Grunde nie eine Chance gehabt“
Vor einem Jahr gab das OVG Münster den Dorstfeldern zu verstehen, dass ihr Rechtsstreit keine Erfolgsaussichten haben würde. Um für beide Seiten den Aufwand und die Kosten zu begrenzen, bot das Gericht an, zwei Drittel der Prozesskosten zu übernehmen, wenn die Mieter ihre Klage zurückziehen. Das taten auch fast alle. „3500 Euro hat mich der Spaß gekostet, aber wir haben im Grunde nie eine Chance gehabt“, resümiert Rainer Hartwig. Er und seine Frau sind inzwischen ausgezogen, haben in der Nähe einen gleichwertigen und bezahlbaren Ersatz gefunden. Von den geräumten Wohnungen im Gewerbegebiet stehen die meisten leer. Manche Eigentümer können sich den Umbau zu Gewerbeflächen und die nötigen Genehmigungsverfahren nicht leisten.
„Nicht auf Rechtsschutzversicherung verlassen“
„Ich kann allen Betroffenen im Grunde nur raten, nicht zu klagen, sondern lieber mit dem Bauordnungsamt über eine möglichst lange Auszugsfrist zu verhandeln – mindestens ein Jahr“, sagt Hartwig. „Es sollte sich auch niemand auf eine Rechtsschutzversicherung verlassen, denn hier geht es nicht um Mietrecht, sondern um Verwaltungsrecht, und das ist in der Regel nicht abgedeckt.“ Hartwig bietet allen Mietern und Eigentümern Rat und Hilfe an, könnte auf Wunsch den Kontakt zu thematisch erfahrenen Rechtsanwälten vermitteln. Er würde sogar für ein Treffen nach Herten kommen. Bei Interesse stellt unsere Redaktion den Kontakt her.
Kind des Ruhrgebiets, aufgewachsen in Herten und Marl. Einst Herausgeber einer Schülerzeitung, heute Redaktionsleiter, Reporter, Moderator. Mit Leidenschaft für hintergründigen, kritischen Journalismus – mit Freude an klassischer Zeitung – mit Begeisterung für digitale Formate – mit Herz für Herten. Unterwegs mit Block und Kamera, Smartphone und Laptop in allen Themenfeldern, die die Menschen bewegen. Besonders gerne hier: Politik, Stadtentwicklung, öffentliche Daseinsvorsorge, Energiewirtschaft, Gesundheitswesen, Digitalisierung, Blaulicht.