
© Frank Bergmannshoff
Existenzen bedroht: Stadt Herten fordert Hunderte Menschen zum Auszug auf
Vorwurf: Illegales Wohnen
Zwischen Angst, Wut und Unverständnis schwanken Hunderte Menschen, die im Gewerbegebiet Westerholt leben. Die Stadt fordert, dass sie schnellstmöglich aus ihren Wohnungen ausziehen.
Mehr als hundert Haushalte im Gewerbegebiet zwischen Westerholt und Langenbochum haben in den vergangenen Tagen Post aus dem Rathaus bekommen. Betroffen sind zum Beispiel Anlieger der Breiten Straße, der Lippestraße, des Ostrings... Nach anderthalb Seiten Behördendeutsch, gespickt mit diversen Paragraphen aus dem Baurecht, folgt eine klare Ansage: Es ist „nicht möglich, dass Sie in diesem Gebäude wohnen bleiben können.“ Und: Es wird beabsichtigt, „Ihnen die Wohnnutzung ab 01.06.2022 zu untersagen“.

Ein Auszug aus einem der Briefe, mit denen die betroffenen Anwohner von der Stadt Herten zum Auszug aufgefordert werden. © Privat
Viele Anwohner verstehen die Welt nicht mehr, für einige bricht auch regelrecht eine Welt zusammen. Mieter und Eigentümer, Rentner und Familien mit Kindern, Unternehmer und Hartz-IV-Empfänger sind gleichermaßen betroffen. Die einen wohnen seit Jahrzehnten in ihren Wohnungen, andere erst seit einigen Wochen. Und zwar angeblich illegal. Dieser Auffassung ist jedenfalls die Stadt Herten.
Illegal – was bedeutet das? „In einem Gewerbegebiet ist das Wohnen grundsätzlich nicht zulässig“, betont Stadtbaurätin Janine Feldmann im Gespräch mit unserer Redaktion. Nur in Ausnahmefällen könne Wohnen zugelassen werden, wenn zum Beispiel an einem Betrieb die ständige Präsenz des Inhabers unbedingt nötig ist.
Gewerbe-Gebäude illegal zu Wohnzwecken umgebaut
Doch wie kann es dann sein, dass in dem Gewerbegebiet insgesamt mehr als hundert Haushalte wohnen – zum Teil seit vielen Jahren –, die gar kein Gewerbe betreiben? Offenbar sind seit der Entstehung des Gewerbegebietes Ende der 1960er-Jahre immer wieder gewerblich genutzte Gebäude zu Wohnzwecken umgewandelt worden.
Recherchen der Stadtverwaltung haben ergeben, dass es zum Beispiel Fälle gab, bei denen Firmeninhaber ihren Betrieb aufgegeben und dann ihre Produktionshalle oder Bürogebäude zu Mehrfamilienhäusern ausgebaut haben. „Ohne Genehmigung“, wie Janine Feldmann sagt.
Eine andere Variante sind frühere Betriebswohnungen. Irgendwann hat der zugehörige Betrieb die Vermietung an Beschäftigte aufgegeben. Die Wohnungen verloren dadurch – so die Darstellung der Stadtverwaltung – ihre Zulässigkeit.
In einigen Fällen haben die mutmaßlich illegal entstandenen Wohnhäuser später den Eigentümer gewechselt. Die heutigen Besitzer fielen aus allen Wolken, als sie jetzt durch den Brief der Stadtverwaltung zu der Erkenntnis kamen, Hunderttausende Euro in Mehrfamilienhäuser investiert zu haben, die gar nicht als solche genutzt werden dürfen.
Betroffene stehen vor den Scherben ihrer Existenz
Unsere Redaktion steht im Kontakt zu mehreren Betroffenen, die plötzlich vor den Scherben ihrer Existenz stehen. Denn sie sind Eigentümer und Vermieter von Wohnungen, die bald allesamt leer stehen. Nicht einmal die Eigentümer selbst dürfen noch darin leben.
Die Betroffenen wollen ihre Namen aktuell noch nicht in der Zeitung lesen. Manche haben Anwälte eingeschaltet, verlangen Akteneinsicht. Die Reaktionszeit ist kurz. Vier Wochen bleiben zur schriftlichen Stellungnahme. Einige Mieter überlegen auch, ob sie erst einmal die Füße still halten und nichts überstürzen – in der Hoffnung, dass die Sache noch „geheilt“ wird. Doch Stadtbaurätin Feldmann betont: „Ich habe keinen Ermessensspielraum.“
Wohnungsmarkt ist dieser Nachfrage nicht gewachsen
Falls es tatsächlich dazu kommt, dass mehr als hundert Haushalte umziehen müssen, ist eine dramatische Situation zu befürchten. Der Wohnungsmarkt in Herten und Umgebung kann eine solche geballte Nachfrage nicht befriedigen. Für betroffene Familien stehen auch Schul- und Kita-Plätze auf dem Spiel.
Beschwerden von Betrieben über spielende Kinder
Die vielen Menschen, die heute in dem Gewerbegebiet wohnen, tun dies in der Regel aus freien Stücken. Warum können sie nicht einfach bleiben? Baurätin Feldmann stellt klar, dass das Wohnen an einem solchen Ort nicht nur ungesund, sondern auch schlicht illegal sei, somit nicht zur Diskussion stehe.
Sie erklärt in diesem Zusammenhang, wie die Sache ins Rollen kam: Unternehmen hätten sich bei der Stadt beschwert, dass viele Kinder auf den Straßen zwischen den Betrieben spielen und dass daher Lastwagen nicht gefahrlos zu den Firmengeländen fahren können. Feldmann: „Wenn wir als Verwaltung diesen Zustand wissentlich dulden und dann wird ein Kind von einem Lkw erfasst, dann stehen wir in der Verantwortung.“
Da drängt sich die Frage auf, wieso die Stadt nicht viel früher eingeschritten ist. Eine Antwort darauf hat Janine Feldmann nicht: „Ich bin erst seit 14 Monaten im Amt und sofort tätig geworden, als ich von dem Sachverhalt erfahren habe.“
Kind des Ruhrgebiets, aufgewachsen in Herten und Marl. Einst Herausgeber einer Schülerzeitung, heute Redaktionsleiter, Reporter, Moderator. Mit Leidenschaft für hintergründigen, kritischen Journalismus – mit Freude an klassischer Zeitung – mit Begeisterung für digitale Formate – mit Herz für Herten. Unterwegs mit Block und Kamera, Smartphone und Laptop in allen Themenfeldern, die die Menschen bewegen. Besonders gerne hier: Politik, Stadtentwicklung, öffentliche Daseinsvorsorge, Energiewirtschaft, Gesundheitswesen, Digitalisierung, Blaulicht.