Der Einstieg in die Sucht klingt unspektakulär: Online-Poker. Kostenlos, eine Ablenkung vom Alltagsstress. Wie viele andere greift Sven* immer wieder zum Smartphone, zockt ein paar Runden. Zunächst ohne Geld einzusetzen. „Irgendwann war ich angefixt, dann habe ich mal 5 Euro eingezahlt.“ Harmlos klingt das, was der Familienvater im Rückblick als seinen Einstieg in die Spielsucht bewertet. Gut zehn Jahre später hat er 150.000 Euro Schulden. Verzockt an virtuellen Glücksspielautomaten in Online-Casinos.
Am absoluten Tiefpunkt seiner Sucht verspielt der 54-Jährige 60.000 Euro innerhalb von vier Wochen. Geld, das seinen Kindern gehört – angespart von den Großeltern. Es ist die Phase, in der Sven die offensichtliche Tatsache nicht mehr ausblenden kann: Er ist glücksspielsüchtig und benötigt Hilfe. Die Sucht ruiniert ihn nicht nur wirtschaftlich, auch psychisch ist der Mann, der im Großraum Dortmund wohnt, zu diesem Zeitpunkt am Ende.
„Meine Psyche war total am Boden. Wenn ich abends ins Bett gegangen bin, hatte ich diese ganzen Glücksspielsymbole vor Augen, nachts bin ich schweißgebadet aufgewacht, weil sich die Symbole vor meinen Augen drehten. Beim frühen Aufwachen das Gleiche wieder. Das kann man sich nicht vorstellen, was da in einem Menschen abgeht. Und der große Fluch am Glücksspiel mit dem Handy ist, dass es 24 Stunden, 7 Tage die Woche verfügbar ist.“
Werbung lockt in Online-Casinos
Von den kleinen Einsätzen hat er sich zu diesem Zeitpunkt schon extrem deutlich entfernt – in den kostenlosen Poker-Apps hat ihn Werbung in Online-Casinos gelockt. „Da hat die Spirale angefangen, sich zu drehen.“ Sven verliert völlig den Bezug zum Wert des Geldes, die Einsätze werden höher und höher. „Wenn das Spielkonto gut gefüllt ist, sind es halt nicht 2 oder 3 Euro pro Runde, sondern es sind pro Dreh 200 Euro, 300 Euro.“ Ein Klick auf den Hebel am virtuellen Automaten – drei Sekunden später stehen die Symbole still. Das Geld ist weg.
Mit seinem normalen Gehalt lässt sich dieses Suchtverhalten nicht finanzieren. Sven verspielt zunächst seine Ersparnisse, dann eröffnet er zusätzliche Online-Konten, reizt den Dispo aus, nimmt Kredite auf. Nur eins ist unantastbar: „Das Geld für die Miete habe ich nie angerührt – auch, damit meine Frau nichts mitbekommt.“ Denn obwohl die Spielsucht Svens Leben bestimmt, ahnen seine Frau und seine zwei Töchter nichts.
„Man wird zum perfekten Schauspieler“, erklärt er den Weg, wie das möglich war. Wenn Geld, beispielsweise für Familienausflüge, fehlt, erfindet er Ausreden, warum er für diese Aktivität keine Zeit hat. Wenn er weiß, es könnten verdächtige Briefe von Banken in der Post sein, fährt er in der Mittagspause nach Hause, um den Postkasten zu leeren.

Der emotionale Stress ist für Sven enorm hoch, kaum auszuhalten. „Man hat ständig dieses große Schuldgefühl, aber man schämt sich auch unfassbar dafür, dass man süchtig geworden ist.“ Trotzdem macht Sven weiter, egal wie sehr die Schulden anwachsen. Die Krankheit habe einen voll im Griff: „Ich will das nicht, aber ich mache es trotzdem. Der normale Menschenverstand setzt einfach aus.“
Seit 2001 ist Glücksspielsucht als Krankheit anerkannt – als eigenständiges Krankheitsbild innerhalb der psychischen Störungen. Wird der Spieldruck, also das Verlangen nach dem Glücksspiel, zu groß, lässt sich das im Gehirn nachweisen.
Die neurochemische Reaktion im Gehirn ist genetisch und lebensgeschichtlich bedingt. Die Prozesse im Kopf lassen sich mit denen bei Alkohol- oder Drogensucht vergleichen. „Unabhängig vom Ergebnis des Spielausgangs erlebt der Spieler jedes Mal einen neurochemischen Gewinn. Egal, ob man gewinnt oder verliert, im Kopf gibt es immer wieder eine Gewinnausschüttung – das treibt den Menschen dazu, immer weiterzugehen“, erklärt Mattis Kögler, Leiter der Suchtberatungsstelle der Caritas in Dortmund. Er und seine Kollegen beraten Betroffene, die einen Weg aus der Glücksspielsucht heraus suchen.
Hoffnung auf großen Gewinn
Erschwerend kommt hinzu, dass der Glaube an den einen großen Gewinn, mit dem man alle Schulden loswird, alles überlagert. Das weiß Sven nur zu gut – zumal er zwischendurch tatsächlich eine sehr große Summe gewinnt: „Wenn man mit so großen Einsätzen spielt, gewinnt man logischerweise auch mal was. Ich hatte einen Gewinn von über 120.000 Euro. Aber dann greifen die Auszahlungsregularien: Man bekommt nur einen gewissen Prozentsatz ausgezahlt, der Rest verbleibt auf dem Spielkonto. Die Anbieter sind ja auch nicht doof und wissen genau, dass man das dann wieder einsetzt.“
Gewinne sind für Glücksspielsüchtige keine Seltenheit, bestätigt auch Mattis Kögler: „Man macht die Erfahrung, dass man gewinnt. Das ist kein Zufall. Das Spielverhalten wird analysiert, Computerprogramme legen fest, wann was geschehen soll – die Anbieter können herauslesen, wie sich jemand verhalten wird. Dementsprechend gibt es Anreize. Man lässt die Leute immer wieder gewinnen, das ist nicht zufällig, sondern wird gesteuert.“ Beim Spielsüchtigen setzt sich fest: „Ich muss nur lange genug dranbleiben, dann gewinne ich auch wieder.“ Das stimme sogar, sagt Kögler. „Aber unterm Strich macht man Verlust.“ Dass sich der Mensch an Gewinnerfahrungen besser erinnert als an Verluste, macht es noch schlimmer. „Das System ist hoch perfide.“
Und der Weg hinaus ist schwer zu finden. Nicht wenige Spielsüchtige verlieren bis dahin Wohnung, Familie und Beruf. „Es gibt Menschen, die verlieren alles – das ist aber nicht die Mehrheit“, so Köglers Erfahrung.

Auch Sven kann den totalen Ruin verhindern, obwohl er den Ausstieg aus der Sucht jahrelang nicht schafft. Es gelingt ihm erst, als er eine rote Linie überschreitet. Er verspielt das Geld seiner Kinder. „Meine Eltern hatten für unsere beiden Kinder jeweils 30.000 Euro angespart. Meine Frau und ich hatten das online angelegt. Wir hatten beide Zugriff darauf.“ Irgendwann kann Sven nicht mehr widerstehen, setzt das Geld zum Spielen ein. „Innerhalb von einem Monat war es weg.“
Es ist der Moment der Einsicht, Sven merkt: „Ich hatte die Kontrolle völlig verloren. Es ging mir richtig dreckig, in Richtung Depression. Ich war völlig niedergeschlagen, weil ich nicht wusste, wie ich da wieder herauskommen soll.“ So dauert es noch sechs Monate, bis er aktiv wird, sich Hilfe sucht. Die Mischung aus Schuld und Scham lähmt ihn. „Man braucht wirklich die absolute Überwindung, mit jemandem darüber zu reden.“ Aber Sven schafft es. Er macht einen Termin bei der Suchtberatung der Caritas in Dortmund aus. Das Datum seines Erstbesuchs wird er nie vergessen: 13. Dezember 2016. „Zwei Tage vorher habe ich zum letzten Mal gespielt.“
So schwer Sven im Vorfeld die Überwindung fällt, so groß ist die Erleichterung nach dem Gespräch. „Das war für mich total befreiend. Alleine mal mit jemandem darüber zu reden, wo man bis dahin alles mit sich selbst ausgemacht hatte. Einfach mit jemandem reden können und die ganze Scheiße zu offenbaren.“
Diese Empfindungen haben viele Betroffene, so der Eindruck von Mattis Kögler. „Der Aspekt Schuld und Scham ist immer ein großer Punkt. Die Überwindung, sich zu offenbaren, ist viel stärker als bei Alkohol- oder Drogensucht.“ Das Suizidrisiko sei höher als bei anderen Süchten. „Das Versagens- und Ohnmachtsgefühl ist so groß. Das persönliche Versagen wird viel stärker wahrgenommen. Das Gefühl, ein Looser zu sein.“ Um so erleichternder sei es für Betroffene, wenn sie im Erstgespräch bei der Caritas die wichtige Botschaft mit auf den Weg bekommen: „Du bist nicht mehr alleine, es gibt einen Weg aus diesem Schlamassel heraus. Du kannst es schaffen, wenn du dir helfen lässt.“
Die erste Hilfe ist der Spielstopp, sagt Mattis Kögler. „Viele kommen schon mit diesem Spielstopp hierher. Wenn sie diese Bremse gefunden haben, ist erstmal Ruhe, kein Verlangen, sondern große Erleichterung.“ Der nächste entscheidende Schritt sei es dann, den Zugang zum Geld zu kappen. Und dafür muss man andere Menschen ins Vertrauen ziehen.
Für Sven bedeutet das ganz konkret: Er muss seiner Frau seine Spielsucht gestehen. Wenige Tage nach dem Gespräch bei der Caritas offenbart er sich. „Das war das schwerste Gespräch meines Lebens.“ Am dritten Advent 2016 spricht Sven seine Frau an: „Ich muss mit dir reden. Ich habe Scheiße gebaut.“ Er ist gnadenlos ehrlich, gibt das komplette Ausmaß der Sucht und die Schuldenhöhe, 150.000 Euro sind es mittlerweile, zu. „Wenn man sich offenbart, dann komplett. Nichts ist schlimmer, als wenn man heute ein bisschen zugibt, morgen noch was nach kommt, und dann noch ein bisschen.“
Kein Zugriff auf Konten
Der große Gefühlsausbruch bleibt zunächst aus, obwohl der Schock groß gewesen sein muss. „Sie hat erstmal nur zugehört.“ Dann reagiert Svens Frau sehr rational – sie verlangt sofort die Zugangsdaten zu allen Konten und ändert sie. Ab diesem Zeitpunkt bekommt Sven wöchentlich nur noch ein „Taschengeld“, die restlichen Finanzen verwaltet seine Frau allein.
Zwei Wochen später hat sich der erste Schock gesetzt – und es fällt ein Satz, für den Sven zeitlebens dankbar sein wird: „Da kam der emotionale Zusammenbruch, meine Frau war natürlich völlig fix und fertig. Aber sie hat mir klipp und klar gesagt: ‚Wenn du dir Hilfe suchst, eine Therapie machst und es durchziehst, dann stehen wir das zusammen durch. Sollte ich allerdings mitkriegen, dass du mich wieder hintergehst in Sachen Spielen, dann war es das mit unserer Ehe.‘“ Die Kombination aus einer zweiten Chance, aber auch der klaren Bedingung, die Sucht zu behandeln, ist für Sven die Basis für die Wende zum Guten.
Er lässt sich zu 100 Prozent auf die Therapie ein. Er will alles dafür tun, den Vertrauensverlust in seiner Ehe wiedergutzumachen. Mithilfe der Caritas-Beratung schafft er den dauerhaften Absprung von der Spielsucht. Er macht eine ambulante Therapie, geht zur Schuldnerberatung und in die Privatinsolvenz. Ab dem Zeitpunkt seiner Offenbarung zieht er diesen Weg konsequent durch.
Auch, wenn das sehr viel Kraft kostet: „Die ambulante Reha, ein Jahr lang, war eines der härtesten Jahre meines Lebens. Weil man in der Therapie ganz viel über sich selbst erfährt. Da wird das ganze Leben einmal auf den Kopf gestellt, um die Ursachen für das Verhalten zu ergründen und Strategien erarbeiten zu können.“ Sven lernt, dass er einen neuen Umgang mit Stress und wirksame Methoden zum Stressabbau braucht. Er erkennt, dass er lange zu viele Probleme und Belastungen mit sich allein ausgemacht hat, vieles in sich hineinfraß. „Wenn mir heute etwas gegen den Strich geht, sprechen wir abends darüber.“
Sven hat seit Dezember 2016 kein Geld mehr verzockt. Trotzdem ist die Glücksspielsucht weiterhin sehr präsent in seinem Leben – weil er anderen helfen will, den Entzug auch zu schaffen: Aus seiner Therapiegruppe heraus hat er gemeinsam mit anderen Betroffenen die Selbsthilfegruppe Glücksspielsucht in Dortmund gegründet. Und er kämpft darum, dass die Erkrankung Glücksspielsucht auch gesellschaftlich höhere Akzeptanz erfährt. „Wenn jemand kommt und sagt: ‚Ich habe ein Alkoholproblem‘, sagt jeder: ‚Such dir Hilfe und mach eine Therapie.‘ Einem Spielsüchtigen wird gesagt: ‚Hör einfach auf.‘ Aber genau das geht eben nicht.“
Finanziell spürt er seine Vergangenheit als Glücksspieler noch immer einmal im Monat: Wenn von seinem Konto Geld auf das Sparkonto für seine Kinder abgebucht wird – er ist auf einem guten Weg, die verspielten 60.000 Euro zurückzuzahlen. Eine schmerzhafte Erinnerung an die Spielsucht und eine Mahnung für die Zukunft: „Das erinnert mich daran, dass ich nie wieder so tief fallen möchte.“
*Name von der Redaktion geändert
Spielsucht: Beratung und Hilfe in Dortmund
- 1,3 Millionen Menschen in Deutschland leiden laut Deutschem Glücksspielatlas unter einer Glücksspielstörung, weitere 3,3 Millionen weisen ein problematisches Spielverhalten auf.
- Die Caritas Dortmund bietet Beratung und Therapie zum Thema Glücksspielsucht an: Es gibt eine offene Sprechstunde, die ohne Termin besucht werden kann, und weiterführende Hilfsangebote. Alle Infos unter www.caritas-dortmund.de
- Selbsthilfegruppe Glücksspielsucht; Die Gruppe trifft sich regelmäßig in der Dortmunder Innenstadt, Kontakt unter 0151/55252300 oder per Mail an shg.gss.do@web.de.
- Weitere Hilfe zur Selbsthilfe gibt es bei der Dortmunder Selbsthilfe Kontaktstelle. Von dort kann beispielsweise in andere Gruppen vermittelt werden oder es können sonstige Fragen beantwortet werden. Mehr Infos gibt es auf www.selbsthilfe-dortmund.de. Kontakt: Ostenhellweg 42–48, Telefon: 0231 52 90 97, E-Mail: selbsthilfe-dortmund@paritaet-nrw.org
- Weitere Informationen zum Thema Glücksspielsucht unter www.check-dein-spiel.de oder www.suchtkooperation.nrw
Hinweis der Redaktion: Dieser Artikel erschien ursprünglich am 26. Oktober 2024.