Die Nische, um die sich einst das Leben einer kompletten Dortmunder Familie drehte, ist mittlerweile eher ein Schandfleck: Mit Graffiti beschmiert, ist die Flügeltür in der Einbuchtung am Haus Schützenstraße 221 wirklich kein Besuchermagnet. Das war in den 1950er-Jahren noch ganz anders.
Damals betrieb die Familie von Gisela Henn (81) hier eine Trinkhalle, die einer vierköpfigen Familie den Lebensunterhalt sicherte. Dabei begann ihre Geschichte eigentlich mit einem völligen Fehlschlag.
Geplante Kneipeneröffnung platzte
Im August 1953 zog die Familie in die Erdgeschosswohnung an der Schützenstraße 221 – und ihr Vater Willi Braun hatte einen Plan: „Die heute zugemauerte Tür an der Ecke des Hauses sollte der Eingang zu einer Kneipe werden, in der Nische war ein Ausschank für den Straßenverkauf geplant“, erinnert sich die gebürtige Dortmunderin, die mittlerweile in Schwerte lebt.
So weit die Überlegungen ihres Vaters, der nach seiner Rückkehr aus dem Zweiten Weltkrieg und einem gescheiterten Versuch, in der Baubranche Fuß zu fassen, ein neues Tätigkeitsfeld suchte. Allein: Er hatte die Rechnung ohne seine Ehefrau gemacht – die den Traum jäh platzen ließ.
„Wenn Kneipe, dann Scheidung“, formulierte Edith Braun es damals klipp und klar. „Sie hatte sonst so ein friedfertiges Wesen, aber da hat sie sich durchgesetzt“, so ihre Tochter heute.
„Erfrischungshalle“ als Alternative
Die Familie Braun zog zwar trotzdem in die Wohnung, aber der Ausbau zur geplanten Eckkneipe wurde gestoppt – bis heute ist die als Kneipentür gedachte Tür zugemauert. Beim Unterschreiben des Mietvertrags war aber schon ein Alternativplan gefunden.
„Erfrischungshalle“ stand dort für ein kleines Zimmer vermerkt – zulasten eines eigenen Kinderzimmers für Gisela Henn und ihre jüngere Schwester. „Wir haben auf einer ausziehbaren Doppelcouch geschlafen, das kleine Zimmer wurde zur Trinkhalle.“

Ein Fenster zur Straße raus, darüber das Schild „Erfrischungshalle Edith Braun“. Rundherum Werbeschilder für Bier, Limo, Zeitschriften, Eis – so zeigt es ein idyllisches Foto aus dem Jahr 1957. Was wie die pure Trinkhallen-Romantik aussieht, hatte jedoch für Gisela Henn überwiegend Schattenseiten. Hinter der Idylle verbarg sich viel, viel Arbeit.
„Meine Kindheit und Jugend war katastrophal“
Die ganze Familie war für den Betrieb eingespannt – täglich war von 8 bis 22 Uhr geöffnet. Kein Ruhetag, keine Feiertage, keine Mittagspause. „Meine Kindheit und Jugend waren katastrophal – wir haben alle ständig Dienst geschoben. Es gab immer etwas zu tun.“ Neben dem Verkauf zum Beispiel Zigaretten oder Bier einsortieren – „das wurde damals noch in Holztruhen mit Stangeneis gekühlt.“
Die vielen Aufgaben, die langen Öffnungszeiten – sie wirkten sich massiv auf die Freizeit der beiden Töchter aus: „Ich konnte mich nicht mit Freunden treffen. Abends hat man vielleicht mal mit Freunden am Fenster der Trinkhalle gestanden, aber Unterhaltungen waren schwierig, weil mein Vater immer dabei war“, schildert Gisela Henn, die im Eröffnungsjahr der Trinkhalle 10 Jahre alt war. Wie ihre Freunde zur Tanzschule gehen? „Da durfte ich aus Zeitgründen nicht hin.“
Kleine Leihbücherei in der Privatwohnung
Noch schlimmer wurde es, als ihr Vater im kleinen Flur der Privatwohnung dann noch eine kleine Leihbücherei unterbrachte: „Für mich war das eine Vollkatastrophe, weil die Leute dann auch noch in unserer Wohnung drin waren“, so Gisela Henn.
Von Trinkhallen-Idylle spürte das junge Mädchen damals also wenig. Im Rückblick ist der heute 81-Jährigen aber auch klar: Die Erfrischungshalle sicherte der Familie das Einkommen. Und ihre Eltern fanden darin auch eine Art Erfüllung.
Zwar endete der Mietvertrag für ihre Wohnung und die Trinkhalle 1964. Für die beiden mittlerweile volljährigen Töchter die Gelegenheit, auszuziehen. Gisela Henn heiratete und übte dann bis zur Geburt ihres ersten Kindes 1966 ihren gelernten Beruf, Großhandelskauffrau, aus. Edith und Willi Braun blieben ihrer Branche hingegen treu.
Eltern blieben dem Kiosk-Leben treu
Sie zogen im gleichen Haus in eine kleinere Wohnung im ersten Stock und übernahmen einen Kiosk nur 50 Meter weit entfernt. „Mein Vater hat bis zu seinem Tod 1975 im Kiosk gearbeitet, meine Mutter als angestellte Verkäuferin noch bis in die 80er-Jahre.“

Ihre jüngere Schwester arbeitete ebenfalls weiterhin im Kiosk ihrer Eltern – dann allerdings ganz offiziell als angestellte Verkäuferin. Und auch Gisela Henn kehrte noch einmal für etwa ein Jahr zurück: als Vertretung für ihre Schwester in deren Babypause. Und das war dann zumindest für ihren Sohn eine schöne Zeit.
„Mein Sohn ist dann immer mit seinem Opa in den Wald gegangen, während ich gearbeitet habe“, erinnert sich Gisela Henn. Nach dem Vertretungs-Jahr endete ihre Kiosk-Zeit aber endgültig. „Ich habe wirklich größte Hochachtung vor dem Beruf Verkäuferin, aber für mich war es der Horror.“ Sie fand ihr berufliches Glück in einem Architekturbüro.
Ganz los lässt sie die Familiengeschichte aber nicht: „Ich bin heute noch viel zum Spazierengehen im Fredenbaumer Wald unterwegs. Wir parken dann oft in der Nähe des Kiosks und kaufen da eine kleine Tüte mit Bonbons.“
Hinweis der Redaktion: Dieser Artikel erschien ursprünglich am 2. Mai 2022. Wir haben ihn anlässlich des „Tag der Trinkhallen“ am 17. August erneut veröffentlicht.
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