Sein Notfalleinsatz am Dienstagmorgen (5.9.) lässt Dr. Ayman Raweh nicht ruhen. Die medizinische Dringlichkeit war Routine, doch die lebensgefährliche Gleichgültigkeit, die er im Umfeld erleben musste, hat ihn alarmiert. Zeit für einen Weckruf, findet er.
An diesem geschäftigen Morgen, kurz nach 9.30 Uhr hatte Dr. Raweh Dienst als Notarzt im Klinikum Dortmund, als ihn der Notruf erreichte. Ein junger Mann (21) war 12 Stufen der langen Treppe zur U-Bahn-Station Brügmannplatz in der Nordstadt hinuntergestürzt und hatte dabei das Bewusstsein verloren.
Eine junge Frau, die seinen Sturz aus der einfahrenden U-Bahn heraus beobachtet hatte, war so geistesgegenwärtig, den Notarzt zu rufen. Sie stieg aus, wartete oben am Eingang der U-Bahnstation und führte das Notfallteam zu dem Gestürzten.
Er begann zu krampfen
„Bei unserer Ankunft fanden wir den Patienten mit dem Gesicht nach unten, völlig bewusstlos und ganz allein, ohne dass jemand versuchte, ihm zu helfen“, berichtet Dr. Raweh. „Als wir ihn umdrehten, begann er zu krampfen.“
Was den Notfallmediziner erschütterte: In der U-Bahnstation war ein Kommen und Gehen. Die Menschen strömten herein und hinaus, viele von ihnen warfen nur einen schnellen Blick auf den bewusstlosen Mann und fuhren auf der Rolltreppe an ihm vorbei. Dr. Raweh: „ Es gab keinen Hinweis darauf, dass jemand versucht hatte, seine Vitalzeichen zu überprüfen oder sogar sicherzustellen, dass er noch atmete. Es schien fast so, als hätten die Leute kollektiv entschieden, dass jemand anderes helfen würde.“
Der junge Mann habe nicht obdachlos oder ungepflegt ausgesehen. Er betone dies, „weil soziale Vorurteile oft dazu führen, dass Menschen Obdachlose als betrunken abtun und sie ignorieren - selbst wenn sie wirklich Hilfe benötigen“.
Phänomen des Zuschauereffekts?
Als Herzchirurg und Notfallarzt habe er erlebt, wie groß der Einfluss auf das Behandlungsergebnis ist, wenn Menschen schnell helfen, bevor das Rettungsteam eintrifft. „Es ist wichtig zu gucken, ob die Notfallpatienten atmen, zu fühlen, ob sie Puls haben, und dann mit der Reanimation zu beginnen.“ Man könne dabei nichts falsch machen. Falsch sei es, nichts zu tun.
Für Dr. Raweh wirft das erlebte Szenario dringende Fragen auf: „War dies ein Fall von deutscher Ignoranz oder das weltweit verstandene Phänomen des Zuschauereffekts, das man im Englischen ,bystander effect‘ nennt.“

Dabei handelt es sich um ein global dokumentiertes und untersuchtes Phänomen, bei dem Einzelpersonen weniger wahrscheinlich Hilfe anbieten, wenn andere Menschen anwesend sind. „Die Wahrscheinlichkeit von Hilfe ist umgekehrt proportional zur Anzahl der Umstehenden. Die Leute denken oft: ,Jemand anderes wird es tun.“, erläutert Raweh.
Gleichgültigkeit zur Norm?
Aber warum? Einige Forscher vermuteten, dass bei mehreren Beobachtern eine sogenannte Verantwortungsdiffusion auftritt. Soll heißen: Jeder geht davon aus, dass jemand anderes eingreifen wird, so dass man nicht selbst handeln muss. Auch die Anwesenheit anderer könne als Form von sozialem Beweis dienen. „Wenn niemand sonst auf eine Situation reagiert, wird sie möglicherweise nicht als Notfall interpretiert“, so der Arzt.
Raweh fragt sich: „Bedeutet dies aber, dass Deutschland, bekannt für seine Effizienz und Disziplin, eine Umgebung pflegt, in der solche Gleichgültigkeit zur Norm wird? Als jemand, der ursprünglich aus dem Jemen stammt und jetzt Deutschland als Heimat bezeichnet, vergleiche ich oft, wie die Menschen in meinem Heimatland zusammenarbeiten, mit dem, was ich hier sehe.“
Der Notarzt erinnert sich an einen weiteren Fall vor rund einem Jahr. Ein junger Mann wurde von einer Frau mit einem Messer angegriffen und weiter verfolgt. Der Mann habe das auf Video aufgenommen und die ganze Zeit um Hilfe gerufen. „Niemand hat geholfen.“
Erst als der Mann bewusstlos vor einem Café zusammengebrochen sei, hätten Leute dort den Rettungsdienst gerufen.
Persönliche Bequemlichkeit
Dr. Raweh unterstreicht, dass der Zuschauereffekt nicht einzigartig für Deutschland ist: „Beispiele für die Gleichgültigkeit von Umstehenden wurden aus allen Teilen der Welt berichtet. Dennoch zwingt uns der Vorfall an der U-Bahnstation tief nachzudenken und zu fragen, ob wir zu einer Gesellschaft werden, die persönliche Bequemlichkeit über die Not eines anderen stellt.“
Eigentlich hätte man die Menschen anzeigen müssen, die den bewusstlosen jungen Mann hilflos liegen ließen, meint der Notarzt, doch dazu habe die Zeit gefehlt. Außerdem müsse die Motivation, anderen zu helfen, von innen kommen, und nicht aus Angst vor Strafe.
Die Welt entwickele sich weiter, und mit ihr veränderten sich gesellschaftliche Normen. „Aber bedeutet Fortschritt, dass wir die grundlegenden Prinzipien von Empathie und Freundlichkeit zurücklassen?“, fragt sich Raweh. „Menschen übersteigen diejenigen in Not, nur um nach Hause zu kommen und ihre Haustiere zu füttern. Ist das die aktuelle Situation in Deutschland?“
Mitfühlendere Gesellschaft
Es sei an der Zeit, dass jeder von uns, ob Deutscher oder nicht, sich diesen Fragen stelle, appelliert der Mediziner: „Denn nur durch Nachdenken, Reflektion und Handeln können wir hoffen, eine mitfühlendere Gesellschaft aufzubauen“.
Der junge Mann aus der U-Bahn-Station wurde nach der ersten Nothilfe in den Schockraum des Klinikum-Nords gebracht. Und dort erfolgreich behandelt.
Hinweis der Redaktion: Dieser Artikel erschien ursprünglich am 1. Oktober 2023.
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