Freunde erinnern an vergessene Germanwings-Opfer „Sie wollten eine andere Maschine nehmen“

Huckarder Germanwings-Opfer: „Sie wollten eine andere Maschine nehmen“
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„Ich habe selten um Menschen außerhalb meiner Familie so sehr getrauert wie um Roswitha und Dietmar“, sagt Gisela Schulz. Auch zehn Jahre nach der Tragödie kommen ihr manchmal noch die Tränen, wenn sie an ihre Freunde denkt. Beim jährlichen Gemeindefest, wo Roswitha so häufig hinter dem Wertmarkenstand gesessen hatte – und jetzt nicht mehr. Oder auch, wenn zu Jahrestagen wieder die Fotos von der Absturzstelle in den französischen Alpen gezeigt werden. Der Schmerz ist nicht weg. „Auch, weil ihr Tod so sinnlos war“, sagt die 75-Jährige.

„Kommt rüber, wir legen Würstchen auf“

800 Meter Luftlinie weiter steht das Wohnhaus von Roswitha und Dietmar Bourgeois. Die Doppelhaushälfte steht seit langem leer. Friedbert und Bärbel Wiemers bewohnen den anderen Teil des Doppelhauses und werden jeden Tag an ihre Freunde erinnert. Zwischen den Gärten fehlt ein Zaunelement. Die Familien hatten es herausgenommen, um kurze Wege zwischen den Grundstücken zu haben. An der Hauswand hatte Dietmar Bourgeois mit Augenzwinkern ein Schild vom Sauerländischen Gebirgsverein angebracht. Der „Wanderweg“ existiert auch heute noch. Er wird nicht mehr genutzt. Und obwohl der Garten mit seinen wuchernden Sträuchern im Vergleich zu damals kaum wiederzuerkennen ist, hört Friedbert Wiemers seinen Freund heute noch rufen: „Kommt rüber, wir legen Würstchen auf.“

Roswitha und Dietmar Bourgeois stehen am Alten Markt in Dortmund vor einer BVB-Fahne.
Roswitha und Dietmar Bourgeois waren BVB-Fans und regelmäßige Stadiongänger. Hier wurden sie vor einem Spiel auf dem Alten Markt in der Dortmunder Innenstadt fotografiert. © Wiemers

Fünf Opfer aus Dortmund

Als sich im März der Absturz der Germanwings-Maschine mit 150 Toten zum zehnten Mal jährte, berichteten die Medien über Hintergründe und Opfer. Für die Freunde von Roswitha und Dietmar Bourgeois war es unverständlich, dass nur von drei Dortmundern in der Unglücksmaschine die Rede war, obwohl es insgesamt doch fünf gewesen seien. Neben dem Mengeder Lokalpolitiker Manfred Jockheck, seiner Frau Sabine und einem jungen Crewmitglied starben am 24. März 2015 in den französischen Alpen auch Roswitha und Dietmar Bourgeois aus Dortmund-Huckarde. „Warum werden unsere Freunde immer wieder vergessen?“


Tatsächlich gehören die Bourgeois zu den weniger bekannten Opfern.

„Kommt rüber, wir legen Würstchen auf“ – so locker ging es eigentlich immer zu zwischen den Nachbarn. „Wir waren gute Freunde“, sagt Bärbel Wiemers. Häufig saßen sie im Wintergarten zusammen. So auch am Abend vor dem Abflug der Bourgeois nach Barcelona. „Roswitha hatte sich sehr darauf gefreut“, sagt sie. Zwar sei die heimliche Urlaubsliebe der beiden die niederländische Insel Texel gewesen – „aber von Barcelona als Urlaubsziel hatte Roswitha oft gesprochen.“ Zum Hochzeitstag hatte sich das Paar die Reise geschenkt. Am nächsten Morgen fuhren sie mit ihrem silbernen Mazda zum Flughafen nach Düsseldorf. Wer konnte schon ahnen, dass es eine Reise ohne Wiederkehr werden würde?

Ein Schild mit der Aufschrift "Wanderweg" hängt am Zaun zwischen den Grundstücken der Schulz' und der Bourgeois in Dortmund-Huckarde.
Der „Wanderweg“ zwischen den beiden Grundstücken der Nachbarn. Seit dem Tod von Roswitha und Dietmar Bourgeois wird er nicht mehr benutzt. © Jens Ostrowski

Gisela Schulz hatte ihre ehemalige Arbeitskollegin vor ihrem Absturz schon eine längere Zeit nicht gesehen. Solche Phasen gab es zwischendurch immer mal. „Doch das machte unsere Freundschaft aus. Wenn man sich sah, war es wie immer.“ 20 Jahre lang hatten die beiden als Gemeinde-Sekretärinnen in der Evangelischen Kirche Huckarde gearbeitet. Sie im Erpinghof, Roswitha Bourgeois am Oskarweg. Die beiden Frauen haben sich die Arbeit geteilt. „Damals wurde ja noch Kirchenbuch geführt. Roswitha hatte eine wunderschöne Handschrift. Das hat sie deshalb geführt.“ Schnell entstand eine Freundschaft – auch, weil ihre Kinder fast im gleichen Alter waren. Gerne denkt Gisela Schulz an gemeinsame Ausflüge oder Geburtstagsfeiern zurück.

Einige Jahre später dann stiegen die beiden ins Flugzeug. Düsseldorf – Barcelona und zurück. Unbeschwerte Tage am Mittelmeer, umgeben von malerischer Architektur und scheinbar grenzenlosem Kulturangebot.

Gisela und Karl-Heinz Schulz zeigen ein Foto von Roswitha und Dietmar Bourgeois aus Dortmund-Huckarde, die beim Germanwings-Absturz ums Leben kamen.
Gisela und Karl-Heinz Schulz mit einem Foto ihrer Freunde Roswitha und Dietmar Bourgeois. Die beiden Frauen arbeiteten viele Jahre zusammen bei der Evangelischen Kirchengemeinde in Huckarde. © Jens Ostrowski

Besonders tragisch: Roswitha und Dietmar Bourgeois buchten ihren Trip einen Tag länger als ursprünglich geplant – um eine Morgenmaschine nehmen zu können. „Sie wollten nicht am späten Abend zurück in Huckarde sein“, weiß Bärbel Wiemers.

Rotes Licht auf dem Anrufbeantworter

Wenige Tage danach.

Die heute 75-jährige Nachbarin befindet sich am Morgen des 24. März 2015 auf dem Huckarder Marktplatz. Sie kauft ein. Für Bourgeois. So sei es immer gewesen, wenn eine Partei aus dem Doppelhaus aus dem Urlaub zurückkehrte. „Dann haben wir uns gegenseitig bekocht und das Nötigste in den Kühlschrank gelegt. Das war ein ungeschriebenes Gesetz. Das musste gar nicht angesprochen werden.“ Am späten Mittag erwartet sie ihre Nachbarn zurück. Als sie mit der Einkaufstasche nach Hause kommt, leuchtet der Anrufbeantworter rot und zeigt gleich mehrere Anrufe in Abwesenheit an. Als sie gerade das Band abhören will, klingelt das Telefon schon wieder. Eine Freundin ist dran: „Habt Ihr schon gehört? Die Maschine ist abgestürzt.“

Bärbel Wiemers muss sich setzen. Für sie bricht eine Welt zusammen.

Trümmerteile liegen an der Absturzstelle der Germanwings-Maschine in den französischen Alpen.
Mit 800 Stundenkilometern bohrte sich die Germanwings-Maschine im März 2025 in die französischen Alpen. Die Maschine wurde förmlich pulverisiert. © picture alliance/dpa

Gisela Schulz geht es nicht anders. Sie erfährt erst Tage später vom Tod ihrer Freunde. Noch heute bekommt sie Gänsehaut, wenn sie an den Moment denkt. „Wir hatten großes Mitleid und waren so erschüttert, als wir die Berichterstattung über den Absturz im Fernsehen sahen. Da wussten wir aber nicht, dass auch Roswitha und Dietmar zu den Opfern zählten.“ Das erfuhr Gisela Schulz ganz nebenbei beim Friseur im Huckarder Dorf. Die Friseurin erzählte es ihr. „Ich konnte das nicht glauben.“ Ihr Mann hatte Dietmar Bourgeois erst wenige Tage zuvor noch im Huckarder Ortskern getroffen. Er hatte mit Vorfreude von der Barcelona-Reise berichtet – und Karl-Heinz Schulz ihm noch „eine gute Reise“ gewünscht.

Wie man das eben macht.

Wer das Huckarder Dorf kennt, der weiß, dass mittendrin die Urbanus-Kirche steht. Nur Wochen nach diesem kurzen Gespräch läuten am 30. Juni 2015 die Glocken der altehrwürdigen Kirche für Roswitha und Dietmar Bourgeois. Einige Tage zuvor hatte der örtliche Bestatter die geborgenen Überreste der beiden vom Flughafen Düsseldorf aus nach Huckarde überführt. Vor dem Altar stehen zwei Urnen. Die Bänke im Kirchenraum sind bis auf den letzten Platz besetzt. Auch Elvira Daus sitzt dabei. Ihr Mann Heinrich und sie kennen die Bourgeois seit vielen Jahren durch den Handball beim SC Huckarde-Rahm.

„Die beiden waren toll. Sie waren da, wenn Hilfe gebraucht wurde.“ Bei den Huckarder Handball-Tagen auf dem Sportplatz an der Arthur-Beringer-Straße habe Roswitha meistens Pommes verkauft, während ihr Mann hinter dem Zapfhahn gestanden habe. Unvergessen auch die Fahrten mit der Handballjugend nach Plettenberg. Dietmar Bourgeois hatte dort die Paul-Berge-Hütte über den Sauerländischen Gebirgsverein organisiert. „Er spielte Gitarre und textete Lieder auf den Handballsport um. Das war besonders gesellig“, erinnert sich Heinrich Daus.

Heinrich und Elwira Daus zeigen ein Foto von Roswitha und Dietmar Bourgeois aus Dortmund-Huckarde, die beim Germanwings-Absturz ums Leben kamen.
Heinrich und Elwira Daus mit einem Foto ihrer Freunde Roswitha und Dietmar Borgeous (4. und 2. von rechts) in der Paul-Berge-Hütte in Plettenberg. Bourgeois sind übrigens nicht die einzigen Germanwings-Opfer, die der 75-Jährige persönlich kannte. Mit Manfred Jockheck ging er zur Schule. © Jens Ostrowski

Pfarrerin Anne-Kathrin Koppetsch und Pastor Michael Ortwald erinnern in der ökumenischen Trauerfeier an Roswitha und Dietmar Bourgeois. An ihre Verdienste. In der Siedlergemeinschaft Huckarde waren es oft die Ideen der beiden, die den Anstoß zu Initiativen und Gemeinschaft gaben. Hunderte Huckarder kennen die Garagenkrippe, die auch mit Hilfe von Dietmar Bourgeois in der Vorweihnachtszeit im Brunshollweg aufgebaut wurde. Beide waren aktive Mitglieder im Sauerländischen Gebirgsverein. Wo immer sie auftraten, erfüllten sie ihre Umgebung mit Freundlichkeit.

Die Freunde mögen es sich erst gar nicht vorstellen, was in den letzten Minuten vor dem Einschlag in der Flugzeugkabine vor sich gegangen ist. Als der ausgesperrte Pilot verzweifelt versuchte, mit einem Getränketrolley die Tür zum Cockpit aufzubrechen. „Ob die Passagiere etwas davon mitbekommen haben, dürfte davon abhängen, wo sie gesessen haben“, vermutet Heinrich Daus. „Man kann nur hoffen, dass das alles schnell ging.“

Beerdigt wurden Roswitha und Dietmar Bourgeois auf dem Katholischen Friedhof in Dortmund-Huckarde. Auf dem gepflegten Grab steht ein grauer schlichter Stein mit dem Nachnamen. Davor liegt ein Naturstein mit den beiden Vornamen. In einer Glasflasche befindet sich Sand von der Insel, die die beiden so sehr liebten: Texel.

Das Grab von Roswitha und Dietmar Bourgeois auf dem Katholischen Friedhof in Dortmund-Huckarde.
Das Grab von Roswitha und Dietmar Bourgeois auf dem Katholischen Friedhof in Dortmund-Huckarde. In der Flasche befindet sich Sand von der Nordseeinsel Texel. Dort tankte das Ehepaar bis zu zweimal im Jahr Kraft. © Jens Ostrowski