
Michael Mantell von der Stifts-Apotheke in Dortmund. © Marius Paul (Archivbild)
Gefährlicher Social-Media-Trend: Dortmunder Apotheker warnt vor Hustensaft-Huhn
„Sleepy Chicken“
Hühnerbrust in Erkältungssaft kochen? Dieser Social-Media-Trend sei nicht nur gefährlich für die Nutzer, warnt Apotheker Michael Mantell. Solche Auswüchse könnten die Lieferprobleme bei Arzneimitteln verschärfen.
Ein Social-Media-Trend, der seinen Ursprung wohl schon vor einigen Jahren auf der Plattform Tiktok nahm, erregt zunehmend die Aufmerksamkeit von Gesundheitsexperten. Sogar die US-Arzneimittelbehörde FDA sah sich zuletzt genötigt, die Öffentlichkeit vor der Nachahmung zu warnen.
Worum geht's? Der Trend heißt „Sleepy Chicken“. Dabei kochen Nutzer Hühnerbrust in einem Erkältungssaft. Sie verwenden dazu das Medikament „NyQuil“ - das US-Pendant zu dem Mittel „Wick Medinait“. Nutzer meinen, das „Rezept“ helfe beim Einschlafen, und das Gericht schmecke zudem gut.
Fleisch nimmt Farbe an
Typisch für „Sleepy Chicken“ ist die blau-grünliche Farbe, die das Fleisch durch das Medikament beim Kochen annimmt. Das klingt nicht nur unappetitlich, sondern sei außerdem gefährlich, wie Michael Mantell von der Stifts-Apotheke in Hörde erläutert. „NyQuil“ und „Wick Medinait“ seien hochwirksame Medikamente, die unter anderem Paracetamol enthalten, warnt Mantell. Die Mittel hätten eine schmerz- und hustenstillende Wirkung.
Die Eigenschaften des Medikaments könnten sich bei der Erhitzung indes verändern, so Mantell. Dadurch drohe bei der „Sleepy Chicken“-Challenge eine ungewollte Überdosierung. Allein die Dämpfe, die beim Kochen entstehen, könnten für eine Schädigung der Lunge sorgen, sagt der Apotheker. Die Risiken seien nicht kalkulierbar.

Im Netz gibt es inzwischen viele Videos, die vor der „Sleepy Chicken“-Challenge warnen. © Tim Schulze
Trends in den sozialen Medien und Gruppenzwang könnten eine gefährliche Kombination für Kinder und ihre Freunde sein, insbesondere wenn es um den Missbrauch von Arzneimitteln geht, warnt die FDA in einem Statement. Laut einem Bericht des Kölner Stadtanzeigers sollen bereits Kinder wegen der Challenge ins Krankenhaus gekommen sein.
Wichtige Medikamente sind knapp
Virale Netzbeiträge, die für eine außergewöhnlich hohe Nachfrage bei bestimmten Medikamenten sorgen können, seien bei den derzeitigen Lieferproblemen in der Branche ein zusätzliches Problem, ergänzt Mantell. „Wick Medinait“ beispielsweise sei aktuell gar nicht lieferbar. Ob diese Tatsache mit dem Tiktok-Trend zusammenhängt, könne er nicht sagen, so der Apotheker. Einen Run auf das Mittel in seiner Apotheke habe er indes nicht festgestellt.
Der Erkältungssaft ist nur eines von vielen wichtigen Mitteln, das Mantell derzeit nicht bestellen kann. Dazu gehört auch das Durchfallmedikament Elotrans. Es wurde durch einen Social-Media-Hype extrem bekannt - und zwar als Anti-Kater-Mittel. Lieferengpässe gebe es unter anderem auch bei Kindernasensprays und Zäpfchen für Kinder, die das Fieber senken, sagt Mantell.
Die Situation ist „sehr frustrierend“
Der Apotheker ärgert sich: „Virale Trends wie Sleepy Chicken erschweren unsere Arbeit in der aktuellen Situation zusätzlich.“ Darunter müssten diejenigen leiden, die auf die Mittel tatsächlich angewiesen sind. „Die Versorgung der Patienten wird immer schwieriger“, sagt Mantell. 250 Medikamente seien derzeit nicht lieferfähig.
Der Grundsatz laute: Niemand solle unversorgt eine Apotheke wieder verlassen. Der Aufwand, Restbestände zu organisieren oder Ersatzmittel zu finden, werde jedoch stetig größer. „Ich will keine Panik verbreiten“, sagt Mantell. Bislang habe er noch immer eine Lösung gefunden. Die Situation sei aber - nicht zuletzt auch aufgrund der Internet-Trends - „sehr frustrierend“. Und: „Eine Versorgung, wie wir sie über lange Zeit gewohnt waren, haben wir nicht mehr.“
Mantell kritisiert, dass sich Europa immer weiter aus der Arzneimittelproduktion zurückgezogen habe. Man habe nach dem Motto „Geiz ist geil“ gehandelt, so der Apotheker. Nun kämen viele wichtige Wirkstoffe aus China, wo die Corona-Pandemie weiterhin für Einschränkungen sorge. Hinzu kämen Engpässe bei Verpackungen, Glasflaschen und Etiketten.
1985 in Bochum geboren, Ruhrgebiets-Liebhaber und BVB-Fan. Nach journalistischen Stationen in Braunschweig und Borken jetzt zurück im Pott. Auf der Suche nach tollen Geschichten über interessante Menschen aus Dortmund.
