Recht
Fürs Schwarzfahren in den Knast – Dortmunder JVA-Leiter findet deutliche Worte
NRW gibt pro Jahr 70 Millionen Euro für die Haft von Menschen aus, die eigentlich nicht zu einer Haftstrafe verurteilt wurden. Ralf Bothge leitet die JVA Dortmund. Er hat eine klare Meinung zu der Praxis.
Etwa 50 Menschen sitzen aktuell in der Dortmunder Justizvollzugsanstalt ein, ohne, dass sie von einem Gericht dazu verurteilt wurden. Sie verbüßen eine sogenannte Ersatzfreiheitsstrafe, weil sie die Geldstrafe, zu der sie eigentlich verurteilt wurden, nicht gezahlt haben. Der Leiter der Dortmunder JVA, Ralf Bothge, kritisiert dieses System scharf.
„Es gibt aus meiner Sicht keinen Fall, in dem eine Ersatzfreiheitsstrafe sinnvoll ist“, sagt Ralf Bothge. „Gerichte haben diese Menschen zu Geldstrafen verurteilt und dann gibt es keinen Grund, sie in Haft zu bringen.“ Eine Haftstrafe ist die härteste mögliche Strafe. Mit dem System der Ersatzfreiheitsstrafe trifft sie aber auch Menschen, die zum Beispiel schwarzgefahren sind.
Eher Menschen mit wenig Geld betroffen
In Dortmund ist der Anteil an Menschen, die eine Ersatzfreiheitsstrafe verbüßen, mit knapp 15 Prozent der Gefangenen besonders hoch. In jedem der 36 Gefängnisse in NRW jedoch sitzen Menschen in Ersatzfreiheitsstrafe. Zum Stichtag 20. Juni waren es über 1000 Gefangene.
Das System funktioniert so: Geldstrafen bemessen sich in Tagessätzen und diese wiederum am Netto-Monatseinkommen. Können oder wollen Menschen eine Geldstrafe nicht zahlen, müssen sie stattdessen für die Zahl an Tagessätzen, zu der sie verurteilt wurden, in Haft. Die tatsächliche Höhe der Geldstrafe ist dabei nicht erheblich.
„Schwarzfahren oder kleinere Diebstähle sind ganz typische Hintergründe für Ersatzfreiheitsstrafen“, sagt Ralf Bothge. „Das sind ganz oft Menschen, die sich nicht leisten können, das Ticket zu zahlen - oder die Geldstrafe.“ Knapp 80 Prozent der Menschen, die eine Ersatzfreiheitsstrafe antreten, sind laut einem Bericht der Justizministerien arbeitslos. So kann es bei Ersatzfreiheitsstrafen zu absurden Konstellationen kommen.
Kosten: 70 Millionen Euro Steuergeld
„Es gibt Fälle, da sitzen Menschen mit einem Einkommen auf Hartz-IV-Niveau wochenlang mit einem Tagessatz von 5 Euro in Haft. Ein Hafttag in einer geschlossenen JVA kostet das Land allerdings knapp 180 Euro“, sagt Ralf Bothge.
Rechnet man diesen Tagessatz auf die aktuelle Zahl der Inhaftierten in Ersatzfreiheitsstrafe in NRW hoch, und diese wiederum auf 365 Tage pro Jahr, gibt das Land NRW im Jahr knapp 70 Millionen Euro Steuergeld für die Haftstrafen von Menschen aus, die eigentlich nicht ins Gefängnis sollten.
Aktuell sei die Zahl der Menschen in Ersatzfreiheitsstrafe sogar eher gering, erklärt Ralf Bothge. Wegen der Pandemie seien Menschen, die eigentlich in Ersatzfreiheitsstrafe müssten, lange nicht einbestellt worden. Irgendwann werden sie allerdings ihre Strafe absitzen müssen.
Plötzlich und unerwartet im Gefängnis
Aber die Absurdität hört nicht bei den Kosten auf. „Bei einem Gefangenen stand einfach irgendwann jemand vor der Tür und hat ihn ins Gefängnis gebracht“, erzählt Ralf Bothge. Er sei zu einer Geldstrafe verurteilt worden und habe den entsprechenden Brief nicht geöffnet. „Man kann sich das ja vorstellen“, sagt der JVA-Leiter, „man ist sowieso schon mit Rechnungen im Rückstand und will dann vielleicht bestimmte Briefe einfach nicht öffnen.“
Ein Blick in die Justizvollzugsanstalt Dortmund an der Hamburger Straße © Oliver Schaper
In diesem konkreten Fall habe die Ersatzfreiheitsstrafe sogar nachweislich negative Folgen für das weitere Leben des Gefangenen gehabt. „Der hatte eine schwierige Lebensphase, war arbeitslos, hatte aber einen Job in Aussicht. Als er in Haft musste, konnte er den nicht antreten.“
Knapp jeder fünfte Mensch, der eine Ersatzfreiheitsstrafe antritt, verfügt laut dem Bericht der Justizministerien über keinen festen Wohnsitz. Urteile, die Wohnungslose betreffen und nicht per Post zugestellt werden können, werden am Gericht ausgehängt und gelten dann als zugestellt.
Von da an haben Wohnungslose einen Monat Zeit, ihre Geldstrafe zu zahlen, sonst müssen sie in Haft. Bei einer dreistelligen Zahl an Wohnungslosen in Dortmund (eine genaue Zahl ist nicht bekannt) würde das bedeuten, dass jeden Werktag dutzende von ihnen im Amtsgericht prüfen müssten, ob gegen sie ein Urteil ausgehängt wurde.
Fußfessel statt Gefängnisaufenthalt
Nur: Wie sollte eine Alternative aussehen? Wer sich strafbar macht und zu einer Geldstrafe verurteilt wurde, darf dieser Strafe ja auch nicht einfach durch Ignorieren entkommen. Ralf Bothge hat mehrere Vorschläge.
Denkbar sei zum Beispiel, die Säumigen mit einer elektronischen Fußfessel auszustatten, die einen bestimmten Bereich definiert, in dem sie sich frei bewegen dürfen. „Man darf dann zum Beispiel zur Arbeit und einkaufen aber nicht in die Kneipe oder zum BVB“, führt Ralf Bothge aus. Milder als ein Freiheitsentzug in einem Gefängnis sei das allemal - und günstiger für den Staat auch.
Wenn ein Verurteilter nachweislich seine Geldstrafe nicht zahlen kann, könnte außerdem eine Art Schleife in das System eingebaut werden. „Ein Gericht könnte noch mal prüfen, ob ein Aufschub der Zahlung möglich ist, bevor jemand automatisch in Haft kommt“, so Ralf Bothge.
Und noch an einer ganz anderen Stellschraube könne man drehen, um die Zahl der Menschen, die eine Ersatzfreiheitsstrafe verbüßen müssen, zu verringern. „Beim Schwarzfahren geht es ja im Prinzip um Zugangsbeschränkungen. Die Bahn wälzt diese Aufgabe auf den Steuerzahler ab. London, Paris und die Westfalenhalle regeln das selbst.“
Als Beispiel nennt Ralf Bothge die bekannten Schranken vor U-Bahn-Stationen in anderen europäischen Großstädten, die man nur mit gültigem Ticket legal überwinden kann. So könnte zumindest ein wichtiger Grund, aus dem Menschen in Ersatzfreiheitsstrafe kommen, angegangen werden.
„Ein Dokument der Hilflosigkeit“
Dass auch Entscheidungsträger die hohe und ansteigende Zahl an Menschen in Ersatzfreiheitsstrafe als Problem identifiziert haben, zeigt der von fragdenstaat.de veröffentlichte Bericht der Justizministerien.
Der Bericht erkennt viele der Problemlagen, die Ralf Bothge anspricht, ebenfalls an. Die Bund-Länder-Arbeitsgruppe, die im Auftrag der Justizministerien alternative Sanktionsmöglichkeiten zur Vermeidung der Ersatzfreiheitsstrafe prüfen sollte, spricht sich allerdings zum Schluss „mehrheitlich für die Beibehaltung der Ersatzfreiheitsstrafe als letztmögliches Mittel zur Durchsetzung der Vollstreckung von Geldstrafen aus“. Ralf Bothge sieht in dem Bericht eher „ein Dokument der Hilflosigkeit“.
Doch bei aller Kritik: Ralf Bothge ist Beamter und dazu verpflichtet, auch ein Gesetz, das er für nicht sinnvoll hält, in seiner Arbeit umzusetzen. Ändern könnte dieses nur die Politik.
Einen entsprechenden Entwurf hat Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) am 5. Juli vorgelegt. Demnach soll die Länge von Ersatzfreiheitsstrafen reduziert werden, indem ein Tag in Haft zwei Tagessätzen der Geldstrafe statt einem entsprechen. Sollte der Entwurf in diesem Herbst vom Kabinett beschlossen werden, könnte die Neuregelung – vorausgesetzt Bundestag und Bundesrat stimmen zu – im Frühjahr 2023 in Kraft treten.
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