Kadir Koc hätte den Integrationsrat wählen dürfen. Er tat es nicht: „Das bringt mir nichts.“

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Dortmunds Viertel der Nichtwähler: „Ich glaube nicht daran“

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In einem Dortmunder Bezirk waren 919 Menschen zur Wahl des Dortmunder Stadtrates aufgerufen - aber nur 111 sind diesem Ruf gefolgt. Auf den Spuren einer miserablen Wahlbeteiligung.

Dortmund

, 18.09.2020, 07:00 Uhr / Lesedauer: 3 min

In den Cafés und auf der Straße wird über den BVB gesprochen, über die Nachbarn, über die alltäglichen kleinen Probleme. Nur Kommunalpolitik ist hier auch vier Tage nach der Wahl kein Thema. Warum sollte es auch? Es ist ja ohnehin kaum jemand wählen gegangen.

Ein Fußballteam bringt 10 Prozent

Die Stahlwerkstraße, einen Steinwurf vom Borsigplatz enfernt, bildet das Herz des Stimmbezirks 3106, zu dem unter anderem auch die Kamener und die Unnaer Straße gehören. 919 Menschen waren hier zur Kommunalwahl aufgerufen, gerade einmal 111 sind diesem Ruf gefolgt. So wenige wie in keinem anderen Dortmunder Stimmbezirk.

15 Menschen wählen die CDU

Oder bildlich gesprochen: Bei einer Wahlbeteiligung von winzigen 12,08 Prozent stellt eine Fußball-Mannschaft, die nach dem Spiel mal eben ins Wahllokal geht, bereits 10 Prozent aller Wähler. Die CDU kam hier auf etwas über 14 Prozent, was exakt 15 Stimmen entspricht. Für dieses Ergebnis hätten somit auch die Reservespieler ihr Kreuzchen bei den Christdemokraten machen müssen.

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Ob sie gewählt hat? Die 66-Jährige, die sich rauchend auf die Fensterbank stützt und auf die Kamener Straße blickt, schüttelt den Kopf. „Nee, ich bin krank, ich kann nicht wählen.“ Und Briefwahl? Erneutes Kopfschütteln. „Auch nicht.“

Dabei wäre die Kroatin, die seit 40 Jahren in der Nordstadt lebt und ihren Namen - wie so viele Menschen hier - lieber nicht in diesem Bericht lesen möchte, als EU-Bürgerin wahlberechtigt gewesen.

„Ich bin ja ganz zufrieden“

Aber so wichtig ist ihr das offenbar nicht: „Ich bin ja ganz zufrieden.“ Aber gibt es denn nichts, was ihr auf die Nerven geht, was die Politik vielleicht verändern könnte?

„Doch, abends ist es hier immer laut. Der Krach und die Schlägereien stören mich.“ Aber deshalb extra Briefwahl beantragen? Die Kroatin schüttelt ein weiteres Mal den Kopf.

„Ich hatte Wichtigeres zu tun“

Nur ein paar Häuser weiter wohnt Jessica Rediess, die sich durchaus ihre Gedanken über Politik macht und auch kein Problem damit hat, ihren Namen zu nennen. Nur eines hat die 38-Jährige nicht getan: gewählt. „Ich hab‘s verpasst. Ich hatte Wichtigeres zu tun.“


18 Stimmen konnte die Grünen-Kandidatin Saziye Altundal-Köse im Gebiet rund um die Stahlwerkstraße für sich verbuchen. Das entsprach einem Stimmenanteil von immerhin 17.14 Prozent.

18 Stimmen konnte die Grünen-Kandidatin Saziye Altundal-Köse im Gebiet rund um die Stahlwerkstraße für sich verbuchen. Das entsprach einem Stimmenanteil von immerhin 17.14 Prozent. © Michael Schuh

Dabei gibt es so einiges, was Rediess im Viertel stört: der Müll, der überall auf den Straßen liege, und die vielen Leute, die ihrer Meinung nach nicht arbeiten wollten. Da die gelernte Malerin und Lackiererin aufgrund gesundheitlicher Probleme momentan keinen Job hat, sei sie selbst zum Rathaus gefahren, um mit dem Oberbürgermeister zu sprechen. „Doch da hatte keiner Zeit für mich.“

Ihr Vertrauen in die Politik ist spätestens seit diesem Erlebnis gen Null gesunken. „Die Diäten der Politiker steigen ständig“, sagt die 38-Jährige, „aber für uns hier in der Nordstadt hat doch niemand ein Ohr.“

Viele Pläne für das Viertel

Als türkischer Staatsbürger, der in der Nordstadt lebt, hätte Kadir Koc zumindest den Integrationsrat wählen können. Er tat es nicht: „Das bringt mir nichts. Hier wird sich nichts verändern.“

Dabei hätte der 46-Jährige durchaus Pläne, wie man sein Viertel aufwerten könnte: ein familienfreundlicherer Hoeschpark, „wo man in einem Café auch mal etwas trinken kann“, bessere Spielplätze, ein Straßenfest in der Stahlwerkstraße.

Aber die Hoffnung, dass die Politik solche Wünsche erhört und sie eventuell sogar in die Tat umsetzt, hat Koc verloren: „Wenn ich wüsste, es wird sich was ändern, dann würde ich auch wählen gehen. Aber ich glaube nicht daran.“

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An der Ecke Enscheder Straße/Oestermärsch fegt Wirt Heinz-Günter Meyer gerade den Bürgersteig vor seiner Kneipe „Actien-Becher“. Lange Jahre sei er SPD-Mitglied gewesen, erzählt der 80-Jährige, aber vor vier Wochen aus der Partei ausgetreten, weil er von den Sozialdemokraten keine Antwort auf seine Frage bekommen habe, wie viel Geld die neu zugezogenen Ausländer die Stadt Dortmund kosten würden. „Da habe ich aus Protest auch nicht gewählt.“

Generell bestimmten laut Meyer in Deutschland etwas mehr als 500 Personen über 80 Millionen - und das seiner Meinung nach stets über die Köpfe der Mehrheit hinweg. „Und danach gefragt, wie sie die Sachen sehen, werden die Menschen doch gar nicht.“

Wahlen brachten nichts Positives

Aber es gibt ja nicht nur Wahlabstinenzler hier im Stimmbezirk 3106, einige Bürger sind letztlich ja doch zur Urne gegangen. Und nach einigem Suchen finden sich zwei. So der 42-Jährige, dessen Eltern aus der Türkei stammen, der aber in Dortmund geboren wurde und einen deutschen Pass besitzt.

„Wählen ist für mich Pflicht“, sagt der Mann, während er in einem Café einen Tee trinkt, „ich gehe immer wählen.“ Positives habe das bislang aber nicht mit sich gebracht: „Früher war es hier rund um den Borsigplatz besser.“

Und außer dem Wahlrecht bringe ihm auch der deutsche Pass nicht viel: „Sobald jemand meinen Namen liest, bin ich doch wieder der Türke.“

Doris Heil gehört als Wählerin zur großen Minderheit im Stimmbezirk 3106. „Natürlich gehe ich wählen“, sagt die 72-Jährige.

Doris Heil gehört als Wählerin zur großen Minderheit im Stimmbezirk 3106. „Natürlich gehe ich wählen“, sagt die 72-Jährige. © Michael Schuh

Angesichts der katastrophalen Wahlbeteiligung hier und der weit verbreiteten negativen Meinung über Politiker, bildet Doris Heil eine absolute Ausnahme. „Natürlich war ich wählen“, sagt die 72-Jährige, während sie in der Kamener Straße auf ein Taxi wartet, das sie zum Arzt bringen soll.

Worte, die man selten hört

Die Stimme abzugeben sei für sie und ihren Mann eine Selbstverständlichkeit - und zwar bei jeder Wahl: „Am 27. September gibt es die Oberbürgermeister-Stichwahl. Da gehen wir natürlich auch hin.“ Worte, die man selten hört. Hier. Im Stimmbezirk 3106. Wo nur 111 Menschen ihr Kreuzchen gemacht haben.

35 Stimmen reichen zum Sieg

  • Der Wahlbezirk 3, zu dem auch der Stimmbezirk 3106 rund um die Stahlwerkstraße zählt, hat mit 21,87 Prozent die mit Abstand schlechteste Wahlbeteiligung aller Dortmunder Wahlbezirke.
  • Mit 33,3 Prozent der Stimmen war Sozialdemokrat Cüneyt Karadas der klare Wahlsieger im Stimmbezirk 3106. Ihn wählten immerhin 35 Bürger.
  • Mit 17.14 Prozent (18 Stimmen) folgte die Grüne Saziye Altundal-Köse auf Rang zwei.
  • Die FDP und die Piraten konnten rund um die Stahlwerkstraße keinen Wähler von sich überzeugen.
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