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Familie Obst aus Berghofen schenkt Olga Khablenko und ihren Kindern ein Zuhause auf Zeit
Ukraine-Flüchtlinge
Natalie Pikul sucht Familien in Dortmund, die Mütter mit ihren Kindern bei sich aufnehmen. Hilfe bekommt die 35-Jährige von allen Seiten. Olga Khablenko hat es geschafft – sie ist nun in Berghofen.
Olga Khablenko sitzt erschöpft am Küchentisch der Familie Obst in Berghofen. In nur sechs Tagen hat es Natalie Pikul geschafft, die ersten Frauen mit Kindern aus der Ukraine in Dortmund privat unterzubringen.
Khablenko zeigt ein Video, auf dem ihre Kinder Matvey und Arina in einem Bus eng zusammen sitzen. Eine Detonation erschüttert die Blicke der beiden. Arina verkriecht sich leise weinend hinter ihrem Bruder. Am Küchentisch herrscht Stille.
Verständigung mit Händen und Füßen
Vier Tage hat diese Flucht gedauert. Am Donnerstagmorgen (10.3.) endete sie in Berghofen. Nadja Obsts Familie war schnell entschlossen, ihr Gästezimmer im Dachgeschoss anzubieten. Seitdem heißt es „Learning by doing“, sagt Nadja Obst und lächelt über den Tisch rüber zu Olga, beide sind dunkelhaarig und haben blaue Augen. Blicke, Hände und Füße dienen zur Kommunikation.
Mit 10 und 15 Jahren sind die Fluchtkinder im Alter von Nikolas und Jonas, den Kindern der Familie Obst. Über die Schulpflegschaft des Gymnasiums an der Schweizer Allee hatte Natalie Pikul eine Mail verschickt. „Konkret fragte ich darin nach Familien, deren Nachwuchs im Alter der geflüchteten Kinder ist“, erklärt sie. Die heimischen Kinder können mit den ukrainischen zum Fußballtraining, auf den Spielplatz, raus in die Natur – und das ohne Angst.
„Kriegsflüchtlinge haben einen langen Weg hinter sich“
Pikul (35) ist beeindruckt von der Hilfsbereitschaft der Gadsa-Familien und der Unterstützung durch die Schule. „Wir haben sowohl Schüler mit ukrainischen als auch russischen Wurzeln und auch Familien, die Verwandte in beiden Ländern haben“, sagt Gadsa-Schulleiter Heiko Hörmeyer. Daher sei es für ihn und seine Schule selbstverständlich, dass sie Natalie Pikul unterstützen.
In den ersten Tagen nach Kriegsausbruch hätten die Lehrer im Unterricht eigenverantwortlich mit den Schülern gesprochen. „Es ging dabei vor allem um Ängste, Hilflosigkeit, aber auch um gegenseitige Anschuldigungen“, sagt Hörmeyer.

Ein Infoblatt und eine E-Mail waren nur der Anfang. In Gadsa-Schulleiter Heiko Hörmeyer haben Natalie Pikul und ihr Sohn Maksim schnell Unterstützung für ihre Flüchtlingshilfe gefunden. © Schulze-Buxloh
Inzwischen gäbe es Hintergrundinformationen und Unterrichtsmaterialien zum Ukrainekrieg für die verschiedenen Altersstufen. „Andererseits ist es für uns aber wichtig, unseren Schülern möglichst viel Normalität zu bieten. Wir sind immer noch in der Corona-Krise und freuen uns eigentlich darüber, dass jetzt wieder zunehmend mehr möglich ist“, so Hörmeyer
To-do-Liste für das Notwendige
„Wir kümmern uns gerade darum, alles vorzubereiten für Ankommende“, sagt Pikul. Luftmatratzen, Decken, Kissen und Anziehsachen stehen auf ihrer To-do-Liste. Denn: „Khablenkos waren nur mit Rücksäcken unterwegs. Mit dabei ein Kater ohne Transportbox, aber sediert“, beschreibt Pikul.
Hilfe bei den Behördengängen
„Ich suche nicht nur Familien mit Wohnraum. Auch konkrete Sachspenden oder die Hilfe bei den Behördengängen sind willkommen. Jeden Tag ändert sich momentan die Gesetzeslage“, sagt die Mutter von Maksim, Schüler am Gadsa. Er spricht deutsch, russisch und etwas polnisch.
„Dürfen die Kinder hier sofort zur Schule?“, fragt sich nicht nur Pikul. „Und wie sieht es mit dem Recht auf Sozialhilfe und eine Mietwohnung aus? Übernimmt das Sozialamt die Kosten?“ Denn: Ohne Zusage für die Übernahme der Mietkosten vom Amt, kann kein Mietvertrag abgeschlossen werden.
Bedarf ist noch unklar
Auf einige Wochen schätzt Pikul den Zeitraum, in dem die Familien für die Flüchtlinge zusammenrücken sollten. Das reiche, um erst mal zur Ruhe zu kommen und sich hier zurecht zu finden. „Sogar eine Woche ist schon viel für den Anfang“, ist sie überzeugt. 16 Privatunterkünfte hat Pikul schon im Dortmunder Süden organisiert.
Sie ist in vielerlei Hinsicht prädestiniert zu helfen: Natalie Pikul hat Kontakte nach Polen, in die Ukraine, Kasachstan und Russland. Sie hat für die LEG Wohnen gearbeitet und kennt sich daher aus auf dem Wohnungsmarkt in Dortmund. „Und ich bin Optimistin!“, rundet sie ab.
Mit einer Mail 1200 Schüler erreicht
Und sie zieht andere mit: Die LEG Wohnen hat zugesagt, bei der anschließenden Wohnungssuche zu helfen. Das Gadsa hat mit einer Mail die Eltern von 1200 Schülern erreicht, die Jüdische Gemeinde – Pikuls erste Anlaufstelle – gibt Sachspenden und Informationen zur Registrierung und Anmeldung der Flüchtlinge.
Während sie auf weitere Wohnungszusagen wartet, erarbeitet die gebürtige Kasachin gerade einen Leitfaden für die hilfsbereiten Familien, die Mütter mit Kindern bei sich aufnehmen. Sie verfasse ihn auf Russisch und Deutsch. „Die jüdische Gemeinde hat mir dafür wertvolle Tipps gegeben“, freut sich die Wirtschaftsingenieuren. Das sei schnell und unbürokratisch geschehen.
„Mathematik braucht keine Sprache“
Natalie Pikul kam im Jahr 2000 im Alter von 16 Jahren aus Kasachstan nach Deutschland. Sie erinnert sich an ihren ersten Mathelehrer auf der Hauptschule in Hörde. Er war begeistert von ihren Rechenkenntnissen. „Mathematik braucht keine Sprache“, sagt sie.
Der Lehrer organisierte spontan für Pikul einen Segeltörn auf dem Wattenmeer. „Das war ein zehntägiger Deutsch-Crash-Kurs auf die schönste Art“, erinnert sich die 35-Jährige dankbar. Die Mutter zweier Söhne (4 und 12) und ist mit einem gebürtigen Polen verheiratet.
Kontakt zu Natalie Pikul für Helfende: natalie.pikul@gmail.com
- Was machen die Schüler an Ihrer Schule zum Thema Krieg in der Ukraine? Hörmeyer: Gestern (8.3) nahm das Gadsa an einer gemeinsamen Aktion der Dortmunder Schulen teil, die im Bundesnetzwerk Europaschule registriert sind. Wir stellten dabei in einem Flashmob das Peace-Zeichen nach.
- Was passiert im Unterricht? Die Fachschaft Geschichte suchte am Wochenende Hintergrundinformationen und Unterrichtsmaterialien zum Ukrainekrieg für die verschiedenen Altersstufen. So haben alle Lehrer bei Bedarf etwas an der Hand. Andererseits ist es für uns aber wichtig, unseren Schülern möglichst viel Normalität zu bieten. Wir sind immer noch in der Corona-Krise und freuen uns eigentlich darüber, dass jetzt wieder zunehmend mehr möglich ist.
- Wie erleben Sie das Miteinander der Schüler? Wir haben sowohl Schülerinnen und Schülern mit ukrainischen als auch russischen Wurzeln und auch Familien, die Verwandte in beiden Ländern haben. In den ersten Tagen haben die Lehrer im Unterricht eigenverantwortlich mit den Schülern gesprochen. Es ging dabei vor allem um Ängste, Hilflosigkeit, aber auch um gegenseitige Anschuldigungen. Die Einführungsphase hat sich auf dem Schulhof getroffen, eine Friedenstaube gemalt und Kerzen entzündet. Und als äußeres Zeichen hatten wir vergangene Woche die Europaflagge gehisst.
- Wie gehen Sie ganz persönlich mit der Situation im Familien- und Freundeskreis um? Auch da sind wir schockiert und hilflos. Wir reden viel darüber miteinander. Kleine Hilfen, wie Geldspenden, sind für uns zur Zeit das einzige, was möglich ist.