Nils Hartwig posiert mit vier weiteren Personen auf dem Dortmunder Friedensplatz. Er ist stellvertretender Bundessprecher der Jungen Alternative, der Jugendorganisation der AfD. In der Hand halten Hartwig und seine Mitstreiter Tüten, die sie an Obdachlose verteilt haben.
Das lässt sich zumindest aus dem Text und den anderen Bildern des Beitrags schließen, den Hartwig am 22. Januar auf Twitter gepostet hat. Dazu stellt er eine Behauptung auf: „Deutsche Obdachlose überwintern aufgrund der enormen Gewaltbereitschaft von osteuropäischen Armutsmigranten in überfüllten Notunterkünften lieber bei Minusgraden auf der Straße.“
Wie kommt er darauf? Hartwig schickt auf Nachfrage drei Artikel. Sie sind aus den Jahren 2017 und 2018 und wurden von der Rheinischen Post, der Süddeutschen Zeitung und der Berliner Morgenpost veröffentlicht.
Osteuropäische Armutsmigranten
In diesen werden die deutlich gestiegene Zahl von Armutsmigranten aus Osteuropa und die daraus resultierenden Probleme und Konflikte thematisiert. Auch Dortmund ist darin erwähnt. Probleme wie die Ausbeutung von Menschen aus Bulgarien und Rumänien in prekären Wohnverhältnissen oder auch sogenannten „Gammelhäusern“ gab es hier verstärkt. Menschen wurden deshalb auch in die Obdachlosigkeit gedrängt.
In den ersten Jahren nach dem EU-Beitritt von Rumänien und Bulgarien 2007 sind im Bundesvergleich überproportional viele Menschen aus Südosteuropa nach Dortmund zugewandert. In den Jahren 2015 bis 2020 hat sich dieser Trend umgekehrt, wie dem „Dortmunder Sachstandsbericht Zuwanderung aus Südosteuropa 2022“ der Stadt zu entnehmen ist. In den vergangenen zwei Jahren war ein leichter Rückgang der Zuwanderung von Menschen aus Bulgarien und Rumänien nach Dortmund festzustellen.
In Dortmund sind daraufhin Netzwerke entstanden, um entstandenen Problemen entgegenzuwirken. Gerade armutsgefährdete Migranten seien „massiv und teils existenziell von den Folgen der Pandemie betroffen gewesen“, heißt es im Sachstandsbericht. Die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigen in dieser Gruppe ist im Jahr 2021 zwar wieder deutlich gestiegen, die Arbeitslosenquote bei Menschen aus Südosteuropa ist aber nach wie vor hoch.
Entscheidend ist mit Blick auf die Behauptung der Jungen Alternative: „EU-Migrantinnen und -Migranten haben keinen Anspruch auf Sozialleistungen in Deutschland“, erklärt Katrin Lauterborn, Geschäftsführerin der ökumenischen Wohnungslosen-Initiative Gast-Haus. „Damit haben sie auch keinen Anspruch darauf, in der Übernachtungsstelle zu schlafen. Die Behauptung der Jungen Alternative ist allein deshalb schon hinfällig.“

Das bestätigt auch Jan Finzi. Er hat zur Stigmatisierung von Menschen in Wohnungsnot an der TU Dortmund promoviert. Außerdem verantwortet er den Bereich der Wohnungslosenhilfe beim in Dortmund tätigen Jugend- und Sozialhilfe-Träger VSE.
„Viele Südosteuropäer werden in der Regel überhaupt nicht in die Männerübernachtungsstelle der Stadt hereingelassen“, sagt Finzi. „Vielleicht können sie eine Nacht dort verbringen, dann werden sie aber spätestens nach ihrer Berechtigung gefragt.“
Hartwig verweist indes auf persönliche Gespräche, in denen Obdachlose ihm immer wieder von einer „enormen Gewaltbereitschaft, ausgehend von rumänischen und bulgarischen Armutseinwanderern auf der Straße, gerade aber auch in Notunterkünften“, berichtet hätten und rät: „Ich kann ihnen nur nahelegen, mit den betroffenen Menschen vor Ort in Gespräch zu kommen.“
Sicht der Betroffenen
Fragt man den Wohnungslosen Benny, der an einem Dienstagabend (24.1.) mit seinem Becher auf der Kampstraße sitzt, nach der Gewalt durch osteuropäische Obdachlose, sagt der: „Das ist Schwachsinn. Deshalb schläft niemand auf der Straße. Aber es passt natürlich ins Weltbild der AfD, dass die Ausländer Stress machen. Ich würde fast sagen, die Ausländer sind die nettesten.“
Gerade in den Einrichtungen würde nicht viel passieren, da gebe es schließlich Sozialarbeiter und Security, die bei Konflikten vermitteln und eingreifen, sagt Benny, der seinen vollen Namen nicht nennen möchte.
- „Wohnungslos“ ist per Definition jeder, der in keiner eigenen Wohnung wohnt. „Obdachlos“ sind diejenigen unter ihnen, die im öffentlichen Raum übernachten.
- Laut Sozialwissenschaftler Dierk Borstel handelt es sich dabei aber um rein theoretische Begriffe. In einer Nacht schlafe man bei Bekannten oder in der Notunterkunft und sei „wohnungslos“. In der nächsten nicht – dann sei man wieder „obdachlos“.
Als wir Anfang des vergangenen Jahres mit zwei obdachlosen Menschen gesprochen haben, nannten diese als Gründe, warum sie nicht in der Schlafstelle, sondern auf der Straße schlafen: hygienische Mängel, Überbelegung und Kosten für die Übernachtung.
Heiko Krenz, der seit vier Jahren wohnungslos ist, erzählte bei einem Protestcamp zur Lage von Obdachlosen, das am Samstag (28.1.) auf der Kampstraße aufgeschlagen worden ist, dass die Notschlafstellen von vielen Betroffenen gemieden würden. Das liege auch an Schikanen und Diskriminierung und bezieht sich damit auf öffentliche Strukturen. „Man hat da null Privatsphäre“, stellte er fest.
Knapp 900 Wohnungslose in Dortmund
Laut einer vom Sozialministerium in Auftrag gegeben und im April 2022 veröffentlichten Studie leben fast 900 Menschen in Dortmund auf der Straße oder in Behelfsunterkünften. Der Anteil der wohnungslosen Menschen mit ausländischem Pass liegt demnach bei bis zu 45 Prozent. Zu einem erheblichen Teil handele es sich um EU-Bürger aus Ost- und Mitteleuropa, die durch scheiternde Arbeitsmigration in Obdachlosigkeit geraten.
Wissenschaftliche Erkenntnisse zu einer besonderen Gewalttätigkeit osteuropäischer Wohnungsloser auf der Straße gebe es aber nicht, sagt Jan Finzi und ergänzt: „Wohnungslose Menschen leben aber generell in prekären und gewaltgeprägten Lebensumständen.“ Als Beispiel nennt er etwa auch Konflikte um Schlafstellen im öffentlichen Raum.

In der Notfallschlafstelle selbst gibt es zwar gewaltsame Auseinandersetzungen, aber in einem für die Polizei überschaubaren Ausmaß. Die Behörde registrierte in den kalten Monaten vom 1. September bis zum 24. Januar insgesamt 21 Einsätze an der Adresse der Notschlafstelle an der Unionstraße. Darunter finden sich auch Streits unter Personen oder Personen, die randaliert haben. Grund dafür sind unter anderem auch psychische Erkrankungen.
Hinzu kommen medizinische Einsätze oder Fälle, in denen es Ärger gab, weil Personen die Schlafstelle nicht betreten durften, zu denen die Polizei hinzugerufen worden ist. Die Einsatzzeiten ließen darauf schließen, dass die Probleme vor Ort schnell gelöst worden seien, teilt Polizeisprecher Peter Bandermann mit. In den wenigsten Fällen sei es tatsächlich zu Gewalt gekommen.
14 körperliche Auseinandersetzungen
Das bestätigt auch die Stadt Dortmund, in den vier Notfallschlafstätten der Stadt habe es seit dem 1. September „insgesamt 14 Fälle körperlicher Auseinandersetzungen verschiedenster Art“ gegeben. Menschen aus Osteuropa würden dabei nicht speziell auffallen.
„Die Polizei hat keine Erkenntnisse auf Verdrängungseffekte, die auf bestimmte Gruppen zurückzuführen sind“, teilt auch Bandermann mit. Und auch nicht darauf, dass an gewaltsamen Konflikten vornehmlich Menschen aus Osteuropa beteiligt seien.
Unter wohnungslosen Menschen seien Konflikte auch auf die Schwierigkeiten des Lebens auf der Straße zurückzuführen. Krankheiten und Sucht spielen mit hinein. „Man kann sagen, das ist typisch für Menschen, die den sozialen Halt verloren und kein familiäres Umfeld haben“, sagt Peter Bandermann.
Keine besondere Gewaltproblematik
„Natürlich geraten Menschen mit solchen Problematiken immer wieder aneinander“, sagt auch Katrin Lauterborn. Das Gast-Haus ist, unweit der Männerübernachtungsstelle, Anlaufpunkt für viele wohnungslose Menschen in Dortmund. Eine besondere Gewaltproblematik in den Schlafstellen sei Lauterborn nicht bekannt, sagt sie.

Auch die Diakonie sieht dafür keine Anzeichen. In der Beratungsstelle des Trägers für wohnungslose Menschen, würde niemand der Nutzerinnen und Nutzer von einem aktuellen Gewaltproblem berichten, heißt es auf Anfrage dieser Redaktion. Nach Angaben der Diakonie werde die Beratungsstelle jährlich von gut 2000 Einzelpersonen aufgesucht.
Bei Konflikten in Schlafstellen handle es sich eher um „Mini-Delikte“ wie etwa ein geklautes Feuerzeug, das zum Streit führe, sagt Katrin Lauterborn. Aber für solche Situationen gebe es eben Sicherheitsdienste und Zugangsbeschränkungen.
Prekäre Lebensumstände
Für die Menschen in den Unterkünften sind diese Sicherheitsvorkehrungen aber auch ein Schutz für Gefahr von außen. Denn: „Männer wie auch Frauen in Wohnungsnot sind in erster Linie Opfer von Gewalt und Gewalttaten“, sagt Jan Finzi. Er merkt in diesem Kontext an, dass „diese auch als Hasskriminalität oder gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit bezeichnete Gewalt auch immer wieder von Rechtsextremen verübt“ werde.
Rechtsextreme Gewalt
Auch im von Nils Hartwig als Beleg angeführten Artikel der Berliner Morgenpost wird das herausgestellt und auf eine Anfrage der Linken an die Bundesregierung Bezug genommen:
Die damalige Regierung teilte im Jahr 2018 mit, dass die „weit überwiegende Mehrzahl“ der politisch motivierter Gewaltdelikte gegen Obdachlose rechten Tätern zuzuordnen sei. Laut einer Erhebung der Amadeu-Antonio-Stiftung wurden von 1990 bis 2008 mindestens 26 Obdachlose von Rechtsextremisten umgebracht.
Rechtsextreme Gruppen versuchen sich jedoch gleichzeitig immer wieder als Unterstützer von Obdachlosen zu inszenieren. So startete etwa die Neonazi-Partei „Die Rechte“, die sich in Dortmund mittlerweile mit der NPD zusammengeschlossen hat, eine Aktion mit dem Namen „Nationale Solidarität: Dortmunder Aktivisten sammeln Spenden für Obdachlose“. Oftmals ist das Engagement auf deutsche Obdachlose beschränkt.
Auch im Tweet des stellvertretenden Bundessprechers der „Jungen Alternative“ schwingt ein ähnlicher Tenor mit. „Für unsere Leute“, schreibt Nils Hartwig da und spricht danach von „deutschen Obdachlosen“. Gleichzeitig verknüpft er das Engagement für diese Gruppe mit dem Gewaltvorwurf gegen „osteuropäische Armutsmigranten“ und der Forderung „schiebt den Rest endlich ab“.
„Der Tenor solcher Aktionen lautet immer: Die Flüchtlinge kriegen alles und Deutsche nichts“, zitiert die Welt Robert Lüdecke von der Amadeu-Antonio-Stiftung in einem Artikel. „So wird versucht, Bedürftige gegeneinander auszuspielen und Stimmung zu machen“
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