Extreme Krankheitswelle bei Kindern in Dortmund „Es ist die Hölle“, sagt Kinderärztin

„Es ist die Hölle“ – Extreme Krankheitswelle bei Kindern
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„Es ist ein heftiger Herbst“, so hat es Dominik Schneider, Leiter der Dortmunder Klinik für Kinder- und Jugendmedizin, in Bezug auf die Auslastung des Krankenhauses ausgedrückt. Teils habe es Schlangen vor dem Eingang gegeben. Die Zahl schwerer Atemwegserkrankungen bei Kindern liege aktuell extrem hoch, sagte Schneider. Das ist auch bei den niedergelassenen Kinderärztinnen und -ärzten in Dortmund zu spüren.

Auch vor der Praxis von Hendrike Frei am Mengeder Markt bildeten sich lange Schlangen im Flur der Praxis, das Treppenhaus hinunter bis vor das Gebäude. Frei ist Sprecherin der Kinderärzte in Dortmund und weiß: Bei den Kollegen ist es nicht anders. „Ich habe eigentlich gar keine Zeit für ein Interview“, sagt Hendrike Frei am Telefon. Sie sagt es nicht unfreundlich, sondern eher gestresst. Zu viel sei zu tun.

In einer ihrer letzten Akutsprechstunden seien 130 Patienten da gewesen. Am Wochenende im Notdienst seien es über 140 Kinder gewesen. Normalerweise sind sie und ihre Kollegin erst am Dezember zu zweit am Wochenende, in diesem Jahr aber schon einen Monat früher, sagt Frei.

1999 hat sie ihren Facharzt gemacht, seit 2002 hat sie ihre Praxis in Dortmund. Im Herbst gebe es zwar immer mehr Erkrankungen, so schlimm wie in diesem Jahr sei es in den vergangenen 20 Jahren aber noch nie gewesen. „Es ist die Hölle“, sagt Frei. Die Kinder sind teils schwer an Influenza erkrankt, Babys kommen mit schweren Verläufen, nachdem sie sich mit dem RS-Virus infiziert haben.

Corona spielt keine große Rolle

Frei diagnostiziert Lungenzündungen und hohes Fieber. „Es kommen auch ältere Kinder im Alter von 14 oder 15 Jahren. Die habe ich zuvor häufig nicht gesehen. Sie sind richtig krank und liegen mit Fieber flach“, sagt Frei.

Corona-Fälle gebe es natürlich auch, aber die seien nicht verantwortlich für die schweren Erkrankungen, sagt Frei. In den Alterskohorten von 0 bis 5 Jahren und von 6 bis 10 Jahren lagen die Inzidenzen in Dortmund in der 46. Kalenderwoche (14. bis 20.11.) nach Angaben des Gesundheitsamtes so niedrig wie in keiner anderen Altersgruppe.

Eine Kinderärztin untersucht die Lunge ein vierjähriges Mädchen. Aktuell leiden viele Kinder unter Atemwegserkrankungen.
Eine Kinderärztin untersucht die Lunge eines vierjährigen Mädchens. Aktuell leiden viele Kinder unter Atemwegserkrankungen. (Symbolbild) © dpa

Trotzdem spiele auch Corona in der Situation eine Rolle, glaubt Frei. „Das Freizeitverhalten hat sich in der Pandemie total verändert. Die Kinder und Jugendlichen treffen sich weniger, sie gehen weniger raus und sind weniger in Sportvereinen.“ Normalerweise würden sie dort mit Keimen und Viren in Kontakt kommen und ihr Immunsystem trainieren. Es handle sich deshalb auch um viele Nachholinfektionen, sagt Frei.

Zahl der Antikörper ist gering

Das bestätigt auch Dr. Prosper Rodewyk, Leiter der Bezirksstelle der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe (KVWL) in Dortmund. „Auch Kinder und Jugendliche haben in den vergangenen zwei Jahren Maske getragen und waren bemüht, sich aus dem Weg zu gehen“, sagt der Allgemeinmediziner.

„Die Zahl der Antikörper ist deshalb bei vielen so stark abgebaut, dass Infekte jetzt stärker wirken, die in der Vergangenheit leichter verlaufen wären. Statt einer laufenden Nase gibt es jetzt die hartnäckigen Symptome.“

Und teils schwere Erkrankungen, wie Hendrike Frei berichtet. Wegen der überfüllten Kinderkliniken in der Region sei es aber schwierig, Kinder in besonders schweren Fällen zur Weiterbehandlung zu überweisen. „Wir müssen fünf oder sechs Kliniken anrufen, um die Kinder unterzubringen und sind froh, wenn wir ein Bett für sie bekommen.“

Angst bei der Ärztin

Da das nicht immer klappt, versuche man vieles in der Praxis zu lösen. Eltern müssen mit ihren kranken Kindern täglich kommen, damit Frei und ihre Kollegin, den Gesundheitszustand im Blick behalten können - alles zusätzlich zum Tagesgeschäft.

„Das Problem ist, dass wir auch die Vorsorgeuntersuchungen irgendwie schaffen müssen. Ich muss die Kinder sprechen hören und sie sehen, um ihre Entwicklung beurteilen zu können“, sagt Frei. Als Nächstes stehen dann die Impfungen an.

„Ich fürchte mich am meisten davor, etwas zu übersehen, weil man sich so hetzt“, sagt die Kinderärztin. Wenn sie am Abend aus der Praxis nach Hause kommt – häufig ist das aktuell gegen 19 Uhr – säße sie häufig noch da und grüble. Das bekommt sie auch von Kolleginnen und Kollegen gespiegelt, sagt Frei.

Keine Schulatteste mehr

Die Dortmunder Ärztin unterstützt deshalb die Forderung des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte Nordrhein und Westfalen-Lippe, dass Schulen keine Atteste mehr für kranke Kinder anfordern sollen.

Das würde die Praxen und ihr Personal entlasten. Denn auch bei den Mitarbeitenden würden sich Krankheitsfälle häufen. Generell mache sich, wie in anderen Bereichen auch, der Mangel an Fachkräften bemerkbar, erklärt die Kinderärzte-Sprecherin. „Das ist ein Problem, das wir permanent haben. In der aktuellen Krankheitswelle macht es sich aber noch deutlicher bemerkbar“, sagt Hendrike Frei.

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