„Die Hütte ist voll“, sagt Prof. Dr. Dominik Schneider. Er leitet als Direktor die Dortmunder Kinder- und Jugendklinik. Und mit „Hütte“ meint er eben diese. Am Wochenende vom 19. bis 20.11. hätten die Menschen wortwörtlich Schlange vor der Klinik gestanden. Am Samstag seien 200 junge Patienten in der Notaufnahme vorstellig geworden. Am Sonntag seien es 150 gewesen, so Schneider.
Ein Grund dafür sind viele Infektionen mit dem RS-Virus (Respiratorisches Synzytial-Virus). Das RS-Virus sorgt dafür, dass sich die Atemwege zusetzten. Gerade bei Säuglingen und Kleinkindern mit kleinen Atemwegen können diese regelrecht verkleben. Die Kinder bekommen Atemnot.
„Ein heftiger Herbst“
Diese Fälle gibt es auch in diesem Jahr, hinzu kommen aber auch viele Fälle anderer Infektionskrankheiten, sagt Schneider. Die Zahl schwerer Lungenentzündungen liege hoch. Das sei in der kalten Jahreszeit zwar in gewisser Weise normal. Aber: „Es ist ein heftiger Herbst mit besonders vielen Krankheitsfällen“, sagt der Klinikdirektor.
Die genauen Ursachen dafür seien aber nicht zu ergründen, sagt Schneider. Im vergangenen Herbst habe es eine wirklich heftige RSV-Welle gegeben. „Das lag vor allem daran, dass verschiedene Jahrgänge gleichzeitig mit schweren Fällen zu uns in die Klinik kamen. Dabei hat es sich um Nachholinfektionen gehandelt, die 2020/2021 ausgeblieben sind.“
In diesem Herbst seien es vor allem viele Säuglinge, die mit ihrer ersten RSV-Erkrankung schwer krank in die Klinik kämen. Das bringe die Kinderkliniken im ganzen Land an die Grenzen; teilweise müssen Kinder von Stadt zu Stadt in das letzte freie Bett verlegt werden.
„Auch Erwachsene infizieren sich regelmäßig mit dem RS-Virus. Häufig drückt sich das nur in einem Schnupfen oder in einer Bronchitis aus. Da die Atemwege bei Erwachsenen deutlich größer sind, können sie den Schleim aber gut abhusten“, erklärt Dominik Schneider. Außerdem helfe der jahrelange Kontakt mit dem Virus.
„Es gibt die Hypothese, dass der Schutz bei den Neugeborenen geringer ist, da auch Schwangere weniger mit dem Virus in Kontakt gekommen sind“, sagt Schneider. Normalerweise geben sie Antikörper im Mutterleib weiter. „Es gibt erste Daten, die zeigen, dass die RSV-Antikörperspiegel bei Schwangeren aktuell niedriger liegen als in früheren Jahren. Daher erkranken dann gerade junge Säuglinge schwer.“
Die Lunge pfeift und brodelt
Je jünger die Kinder sind, desto problematischer sei die Erkrankung, sagt Schneider. „Ein Alarmzeichen ist, wenn Kinder es nicht mehr schaffen, an der Flasche oder an der Brust zu trinken, weil sie nicht genügend Luft bekommen“, erklärt der Direktor. Die Kinder würden sich dann anhören wie ein schwerer Asthmatiker. Die Lunge pfeift und brodelt.

Aktuell werden zwei Kinder mit Vorerkrankungen wegen des RS-Virus auf der Intensivstation behandelt. Außerdem zwei weitere mit anderen schweren Atemwegserkrankungen.
Weil so viele Kinder wegen Atemwegserkrankungen kommen, müssen die Mitarbeitenden ständig neue Patienten aufnehmen und andere wieder entlassen. Das sei eine zusätzliche Arbeitsbelastung für die Teams, sagt Schneider, die ohnehin einiges aufgebürdet bekommen. Denn der zweite Grund für die aktuelle Belastung der Kinder- und Jugendklinik ist aus Sicht ihres Direktors ein systemischer.
Sparkurs bei Kinderkliniken
Der ökonomische Druck, der auf Kinderkliniken lastet, ist hoch. Seit der Einführung der Fallpauschalen im Jahr 2003 schreibt der Großteil der Kinderkliniken in Deutschland rote Zahlen. Denn die Fallpauschalen sehen vor, dass Krankenhäuser für abgeschlossene Behandlungen von den Krankenkassen je nach Diagnose Festbeträge bekommen.
Das System fördert also möglichst viele Behandlungen in kurzer Zeit. Gerade bei Kindern sind Behandlungszeiten aber häufig länger. „Wir sind ein Allesanbieter. In unserer Klinik wird ein Frühgeborenes mit 400 Gramm behandelt, aber auch ein 17-jähriger Rheumapatient mit 120 Kilo. Das kann man kaum wirtschaftlich betreiben.“
In der Pädiatrie gebe es sehr viele und hochkomplexe Krankheitsbilder. Die Vorhaltekosten für Experten, die diese behandeln können, seien dementsprechend hoch.
„Wenn wir nur geplante Termine vergeben würden, funktioniert diese Kalkulation mit dem Fallpauschalensystem, aber 80 Prozent unserer Patienten sind Notfälle.“ Die Ressourcen ließen sich so kaum langfristig planen. Hinzu käme, dass in Herbst und Winter die Patientenzahlen wegen Atemwegserkrankungen in die Höhe schnellen, im Rest des Jahres aber niedriger liegen.
Kritik am Gesundheitsminister
Eine Expertenkommission berät Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach zu der Problematik. Obwohl Lauterbach auch möchte, dass die Fallpauschale für Kinderkliniken fällt, käme er den Vorschlägen des Gremiums nicht nach, übt Schneider Kritik am Minister.
Der Direktor der Dortmunder Kinderklinik wünscht sich deshalb, dass Kinderkliniken ähnlich wie Feuerwehren betrachtet, finanziert und als Teil der Daseinsfürsorge angesehen werden.
Hingegen seien in den letzten Jahren 20 Prozent der Kinderkliniken in Deutschland und 30 Prozent der Betten abgebaut worden, sagt Schneider. „Wir müssen den Ökonomisierungswahn in der Pädiatrie und der Pflege beenden. Die Kapazitäten werden immer kleiner geschnitten, auch in Dortmund“, kritisiert der Direktor.
„In kleineren Teams müssen wir aber die gleichen Infektionswellen behandeln. Die Mitarbeitenden sind am Ende ihrer Kräfte“, sagt Schneider. „Sparen wir in Deutschland weiter an den Kinderkliniken, werden wir den Kindern nicht mehr gerecht.“
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