Extrem viele Drogentote in Dortmund Die wirkliche Zahl liegt noch höher, sagt Jan Sosna

Deutlich mehr Drogentote: Fallzahl in vier Jahren fast vervierfacht
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Seit langer Zeit wird in Dortmund über die Drogenhilfe und die Situation von Abhängigen in der City diskutiert. Geschäftsleute wollen den Drogenkonsumraum des Café Kick weiter vom Westenhellweg entfernt sehen. Politiker setzen sich hingegen für erweiterte Öffnungszeiten neben der Thier-Galerie ein.

Neue Zahlen der Polizei Dortmund zeigen nun, dass im vergangenen Jahr extrem viele Drogentote in der Stadt verzeichnet wurden. In den Jahren 2019, ‘20 und ‘21 wurden 20, 19 und 20 Todesfälle registriert. Zuletzt waren es nun 31 Menschen, bei denen Tod durch Drogenkonsum festgestellt worden ist. 2018 hatte es sogar nur 8 Fälle gegeben. Allerdings: In ganz NRW sind die Fallzahlen deutlich gestiegen.

Zumeist sei bei den Verstorbenen Mischkonsum festgestellt worden, berichtet Polizei-Sprecher Joshua Pollmeier auf Anfrage. „In den meisten Fällen wurde dabei auch Heroin, Methadon oder ein ähnlicher Ersatzstoff konsumiert.“ Ob es sich aktuell um ein Allzeit-Hoch der Todeszahlen in Dortmund handelt, kann die Polizei wegen veränderten Erhebungsmethoden nicht sicher mitteilen.

„Bei der Veröffentlichung von irgendwelchen Zahlen bin ich immer sehr zurückhaltend“, sagt Jan Sosna, der Leiter des Drogenkonsumraums im Café Kick der Aidshilfe. Interpretationen seien komplex und in der Regel seien ihm mehr Verstorbene bekannt als in den offiziellen Zahlen auftauchen.

Seiner Erfahrung nach erfasse die Polizei als Todesursache in einigen Fällen beispielsweise nur einen Herzstillstand, aber nicht den Drogenmissbrauch, der dahinter stehen könnte. „Die Zahlen bilden nur einen verschwindend geringen Teil von dem ab, was tatsächlich stattgefunden hat“, so Sosna.

750 Klienten pro Jahr

Durch verschiedene Hilfsangebote ist sein Team in der Szene gut vernetzt. Es habe schon Jahre gegeben, in denen den Helfern fast viermal so viele Todesfälle bekannt waren, als offiziell in der Statistik zu lesen war. Umso auffälliger ist der jüngste starke Anstieg in den Polizei-Zahlen.

Im Drogenkonsumraum können die Abhängigen in Sichtweite der Thier-Galerie unter sauberen und sicheren Bedingungen ihre Sucht befriedigen. Rund 750 Personen haben das im vergangenen Jahr getan, übers Jahr verteilt, seit wenigen Monaten erst dürfen auch Menschen aus anderen Städten die Einrichtung nutzen. Befragungen haben ergeben, dass etwa jeder fünfte Gast obdachlos ist.

Im Mülleimer des Drogenkonsumraums sind zahlreiche gebrauchte Spritzen zu sehen.
Im Mülleimer des Drogenkonsumraums sind zahlreiche gebrauchte Spritzen zu sehen. © Kevin Kindel

„Einfach (über-) leben“ lautet die Philosophie des Café Kick. „Der Tod ist auf der einen Seite gar nicht und auf der anderen Seite täglich präsent“, sagt Jan Sosna. Wenn Kolleginnen und Kollegen nach zwei oder drei Wochen aus dem Urlaub kommen, sei eine der ersten Fragen: „Ist jemand gestorben?“

In der Einrichtung gibt es eine Gedenkecke, doch einige Klienten wollen die Realität nicht so vor Augen geführt bekommen: „Ich glaube, dass der eine oder andere Drogengebraucher perfekt darin ist, Sachen zu verdrängen.“

Gefahr bei jedem Konsumvorgang

„Wenn wir alle unser Pils trinken, wissen wir, wie viele Promille da drin sind“, sagt der Kick-Chef. Wenn man aber Heroin konsumiere, wisse man nicht, womit es wie stark gestreckt ist. „Jeder Konsumvorgang birgt die Gefahr, dass sich der Dealer verkalkuliert hat“, so der Einrichtungsleiter.

Zwei- bis dreimal pro Monat kam es im Café Kick oder im direkten Umfeld zuletzt zu Notfallsituationen durch Drogenkonsum. „Diese Zahlen sind stark zurückgegangen“, sagt Sosna: „Vor acht bis neun Jahren waren sie pro Jahr dreistellig.“

Der deutlich vorherrschende Grund für solche Notfälle ist Heroin: In 95 Prozent sei diese Droge Schuld an gefährlichen Zwischenfällen - häufig eben im Mischkonsum mit anderen Substanzen. Doch Jan Sosna vermutet, dass ein anderes Rauschgift für die jüngere Diskussion unter Politikern und Wirtschaftsvertretern sorgt.

„Mit dem steigenden Kokain- und Crack-Konsum stellen wir eine zunehmende Verelendung und Verwahrlosung dieser Besuchergruppe fest“, sagt er. Alle 20 Minuten können stark Abhängige eine neue Portion Crack anzünden, die etwa 8 Euro koste.

Verwahrlosung fällt auf

Also drehe sich das ganze Leben nur darum, Geld und Stoff zu besorgen. Die einfachsten Grundbedürfnisse wie Essen, Trinken und Hygiene würden Abhängige stark vernachlässigen. Und wer sehr abgemagert ist und extrem heruntergekommen daherkommt, fällt in der Innenstadt stärker ins Auge. Im Café Kick erkenne man aber keine allgemeine Vergrößerung der Drogenszene. „Da sind die Zahlen der unterschiedlichen Nutzer sogar zurückgegangen“, so Sosna.

Bei der rauchbaren Kokain-Form Crack gibt es jedoch eine erschreckende Entwicklung. „2015 hatten wir in unserer Einrichtung 61 Konsumvorgänge von Crack“, so Sosna. Sieben Jahre später waren es zuletzt 16.303 Vorgänge. Weil mehr von dem Zeug auf dem Markt ist, sind die Preise deutlich gesunken und mehr Menschen konsumieren es.

Tod vor dem Neustart

Ein Todesfall aus dem vergangenen Jahr ist Jan Sosna besonders im Kopf geblieben - weil der Betroffene gerade eine Therapie absolviert hatte. Als er ihn im Café Kick traf, fragte Sosna, warum er da sei.

In Mecklenburg-Vorpommern gehe es ihm richtig gut, ein Job sei in Aussicht, erzählte der Klient. Er sei nur kurz in Dortmund, um Dinge für den dauerhaften Umzug zu regeln. Und er merke schon selbst, dass ihm der Aufenthalt in der Stadt nicht guttue. Übermorgen wolle er wieder fahren.

„Am 2. Juli ist er verstorben. Ich hab ihn am 1. Juli gesehen“, so Sosna. Ein relativ geläufiger Fehler sei es, bei Rückfällen die hohe Dosierung aus alten Gewohnheiten einzunehmen. Und das hält der Körper dann manchmal nicht mehr aus.

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