
© Stephan Schütze
Fragen und Antworten: Das bedeutet das Urteil zur Hannibal-Räumung
Streit um Evakuierung
Für die Stadt Dortmund war es kein Erfolg auf ganzer Linie, aber im wichtigsten Punkt: Die Hannibal-Räumung 2017 war rechtens und angemessen. Für die Mieter sind aber viele Fragen offen.
Das Urteil gibt Rätsel auf. Die gegen die Räumung des Hannibal-Wohnkomplexes gerichtete Klage des Eigentümers hatte teilweise Erfolg, teilt das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen nach der Verhandlung am Mittwoch (6.10.) mit. Gleichzeitig wird der Stadt bescheinigt, mit der sofortigen Evakuierung richtig gehandelt zu haben. Wir versuchen zu erklären, wie das zusammenpasst.
War die Räumung nun rechtswidrig?
Knall auf Fall mussten mehr als 400 Mieter am Abend des 21. September 2017 ihre Wohnungen im Hannibal-Wohnkomplex in Dorstfeld verlassen. Die Stadt Dortmund sah wegen akuter Brandschutzmängel Gefahr im Verzug. War das übertrieben oder gerechtfertigt? Das war die eigentlich entscheidende Frage beim vom damaligen Eigentümer Lütticher 49 angestrengten Verfahren vor dem Verwaltungsgericht.
Und zumindest darauf gab es im Prozess eine klare Antwort: „Die Stadt hat richtig gehandelt. Das Vorgehen war nicht übertrieben“, übersetzt Mieterverein-Geschäftsführer Tobias Scholz, der bei der Verhandlung in Gelsenkirchen als Beobachter dabei war, das Juristendeutsch. Das Gericht habe bestätigt, dass mit Blick auf die Brandschutzmängel Gefahr im Verzug war und die Stadt keinen Ermessensspielraum gehabt habe.
Die Nutzung der Wohnhochhäuser und der Tiefgarage sei nicht durch eine Baugenehmigung gedeckt und damit formell illegal gewesen, teilt das Gericht selbst mit. Seit dem Bau des Gebäudekomplexes in den Jahren 1973 bis 1977 seien mehrere genehmigungspflichtige Änderungen sowohl in den Wohnhochhäusern als auch in der Tiefgarage vorgenommen worden, für die Baugenehmigungen nicht eingeholt worden seien.
„Das Gericht hat klargemacht, dass massive Baumängel, insbesondere beim Brandschutz vorlagen. Die Mängel seien sogar größer als zuvor angenommen. Es habe eine konkrete Gefahr für Leib und Leben der Mieterinnen und Mieter bestanden. Die Stadt habe keine andere Wahl gehabt, um die Gefahr abzuwehren. Das Gericht hat daher die Nutzungsunterlassung als zulässig erklärt“, erläutert Scholz.
„Wir werden das Urteil als Erfolg“, bilanziert denn auch der städtische Planungsdezernent Ludger Wilde. Das Gericht habe bestätigt, dass die Evakuierung zwingend notwendig und alternativlos gewesen sei.
Was hat das Gericht am Vorgehen der Stadt zu bemängeln?
Teilweise erfolgreich war die Klage des früheren Eigentümers, weil das Gericht einen formalen Fehler beim Vorgehen der Stadt sieht. Die Räumung selbst sei zwar zulässig gewesen, die Räumungsaufforderung hätte aber ausschließlich an die Mieterinnen und Mieter gerichtet werden müssen. Sie hätten Adressaten der Nutzungsuntersagung sein müssen, weil ein Eigentümer und Vermieter mietrechtlich keine Handhabe haben, einem Mieter umgehend die Nutzung der Wohnung zu verbieten.
Soll heißen: Die Stadt hätte jedem einzelnen der mehr als 400 Mieter einen Bescheid zur Nutzungsuntersagung zustellen müssen. „Das wäre für die Evakuierungsmaßnahme aber völlig weltfremd gewesen“, stellt Ludger Wilde fest.
Welche Folgen hat der formale Fehler?
Für die Mieterinnen und Mieter hat dieser „Haken“ keine Konsequenzen. Von Bedeutung ist er nur im Streit um die Kosten der Räumung.
„Die formellen Fehler bei der Räumung sind wichtig für die Frage, ob die Stadt Dortmund die Kosten der Räumung der Eigentümerin in Rechnung stellen darf. Das Gericht hat nicht infrage gestellt, dass die Räumung des Hannibal rechtmäßig war“, erklärt Tobias Scholz. Nach Meinung des Gerichts hätten nur die Mieterinnen und Mieter die Adressaten der schriftlichen Verfügung sein müssen. „Das Ergebnis für die Mieter hätte sich dadurch aber nicht geändert“, sagt Scholz.
Welche Folgen hat das gesamte Urteil für die betroffenen Mieterinnen und Mieter?
Selbst die Experten haben da noch keinen Durchblick. Man warte erst einmal das schriftliche Urteil mit Begründung ab, erklärt Tobias Scholz. Die betroffenen Mieterinnen und Mieter seien nicht Teil des Verfahrens gewesen. Das Urteil sei allerdings entscheidend für die Frage, ob und gegen wen sie mögliche Schadensersatzforderungen geltend machen können.
Aus Sicht des Mietervereins erhärtet sich die Vermutung, dass der Eigentümer aufgrund von massiver Baumängel für die Räumung und Nutzungsuntersagung verantwortlich ist und damit für die entstandenen Schäden haften muss. „Es ist schwer nachzuvollziehen, dass ein Eigentümer nicht die Kosten einer Räumung tragen soll, obwohl er die Verantwortung für die baulichen Mängel trägt“, meint Tobias Scholz.
Auch Ludger Wilde verweist für die Stadt darauf, dass man das schriftliche Urteil abwarten müsse. Zum Streit um die Kosten zwischen Stadt und dem damaligen Hannibal-Eigentümer gibt es auch noch ein weiteres Gerichtsverfahren. Es sei aber davon auszugehen, dass darüber erst entschieden wäre, wenn das aktuelle Urteil rechtskräftig ist.
Die Berufung wurde vom Verwaltungsgericht Gelsenkirchen nicht zugelassen. Dagegen können beide Seiten aber Einspruch vor dem Oberverwaltungsgericht in Münster einlegen. Ob man seitens der Stadt davon Gebrauch mache, hänge von der schriftlichen Urteilsbegründung ab, so Wilde.
Oliver Volmerich, Jahrgang 1966, Ur-Dortmunder, Bergmannssohn, Diplom-Journalist, Buchautor und seit 1994 Redakteur in der Stadtredaktion Dortmund der Ruhr Nachrichten. Hier kümmert er sich vor allem um Kommunalpolitik, Stadtplanung, Stadtgeschichte und vieles andere, was die Stadt bewegt.
